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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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noch, aber ihre Lebensgeister schwanden sichtlich.
    »Dieses Gericht ist derzeit sehr beliebt«, bemerkte Shen. »Auch so ein Revival.«
    Für einen Mann seines Alters langte Shen kräftig zu. Er schob sich mit den Stäbchen eine zuckende Krabbe in den Mund, Chen tat es ihm nach. Die Krabbe schmeckte leicht süßlich, aber das glitschige Gefühl auf der Zunge behagte ihm gar nicht.
    »Ich komme jetzt zur Machart des Kleides«, fuhr Shen fort und kräuselte die Lippen. »Es ist zu hundert Prozent von Hand genäht. Nur ein alter, erfahrener Schneider aus Ningbo kann so etwas anfertigen. Für ein solches Stück braucht man mindestens eine Woche. Heutzutage sieht man in den Schaufenstern edler Boutiquen großartig schillernde qipaos mit Preisschildern, von denen einem schwindlig wird. Aber die Qualität ist ein Witz. Alles mit der Maschine genäht, kein Vergleich zu dem Kleid, das Liao mir gezeigt hat.«
    »Dann ist es also vor mehr als zehn Jahren genäht worden, wobei Stoff und Schnitt sogar noch älter sein dürften – sechziger, wenn nicht fünfziger Jahre«, resümierte Chen und machte sich Notizen. »Der Verbrecher muß sich also bewußt einen älteren Stoff beschafft und das Kleid in dieser besonderen Machart in Auftrag gegeben haben.«
    »Dazu kann ich nichts sagen«, erklärte Shen. »Auffällig ist auch die Art, in der das Opfer das Kleid trug. Die Ästhetik dieses Kleidertyps beruht auf der subtilen Präsentation weiblicher Reize. Die Seitenschlitze zum Beispiel enthüllen zwar die Beine einer Frau, aber nicht zu weit. Das gelegentliche Aufblitzen eines Schenkels regt die Phantasie ausreichend an.«
    »Ganz wie in der klassischen Poesie«, warf Chen ein. »Die Imagination entzündet sich an dem, was der Dichter nicht sagt oder zumindest nicht direkt.«
    »Genau. Sie kennen den Unterschied. Stellen Sie sich vor, ein hochgewachsener amerikanischer Filmstar mit großer Oberweite trägt einen sogenannten modifizierten qipao , kurz und rückenfrei. Mir zumindest würde beim Anblick ihres sommersprossigen, nackten Rückens und der glattrasierten Oberschenkel jede Einbildungskraft vergehen.«
    »Sie haben Ihre imagistische Sehweise beibehalten, Meister Shen.«
    »Anders gesagt, ist der qipao ein Kleid, das die inneren Reize der Trägerin durchscheinen läßt: sinnlich, subtil, anmutig. Eine Garderobe, die nicht jeder Frau steht.«
    »Ja, das ist alles ziemlich komplex«, bestätigte Chen.
    »Auch die Höhe der Seitenschlitze ist entscheidend. Frauen aus guter Familie tragen moderat geschlitzte Kleider, wie es die Schicklichkeit erfordert. Eine Frau sollte im qipao grundsätzlich kleine Schritte und keine ausladenden Bewegungen machen. Aber modische junge Mädchen brauchen höhere Schlitze, schon weil sie in dem Kleid tanzen und herumstolzieren wollen. Ein Mädchen aus dem Unterhaltungsgewerbe wird einen qipao mit besonders hohen Schlitzen wählen, der ihre Beine und Schenkel verführerisch zur Geltung bringt, manchmal sogar das Gesäß. Das alles gehört zur Semiotik des qipao . In den dreißiger Jahren hätten sich einem solchen Fräulein die potentiellen Kunden auf der Vierten Straße genähert.«
    »Eine sehr aussagekräftige Etikette«, bemerkte Chen und schob sich die nächste zuckende Krabbe in den Mund. Diesmal schluckte er, ohne zu kauen – ein Fehler, denn das Tier kratzte ihn im Hals und hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack. Die Vierte Straße war vor 1949 das Rotlichtviertel gewesen.
    »Eine feine Dame würde entsprechende Strümpfe und hochhackige Schuhe dazu tragen, wenn auch nicht unbedingt zu Hause. Aber sehen Sie sich das Fotos an – kein BH, keine Höschen, keine Schuhe, und das Kleid ist bis über die Scham hinaufgerutscht. Wer immer diesen Mord begangen hat, hat auch das Kleid ermordet.« Shen legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr: »Soweit ich verstanden habe, wurde sie Opfer eines Sexualverbrechens, aber dieses Kleid ist so alt und außergewöhnlich, daß es mit Bedacht gewählt worden sein muß. Außerdem ist es viel zu konservativ; in einem solchen Kleid hat man keinen Geschlechtsverkehr. Es paßt einfach nicht.«
    »Vieles paßt nicht zusammen in diesem Fall«, sagte Chen und räusperte sich.
    »Zu dem Fall kann ich nichts sagen, Oberinspektor Chen«, erwiderte Shen verwirrt. »Nur zu dem Kleid.«
    »Haben Sie vielen Dank, Shen. Mit Ihrem Fachwissen haben Sie unseren Ermittlungen weitergeholfen.«
    Chen erwähnte nicht, daß das Gespräch mehr Fragen aufgeworfen als gelöst hatte.

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