Blut und rote Seide
eine Gruppe Jugendlicher, die ein neues, sozialistisches China aufbauen wollten, nach heutigen Standards keineswegs eine Liebesgeschichte. Die junge Krankenschwester war viel zu sehr mit der Revolution beschäftigt, um sich romantischen Gefühlen hinzugeben. Und Liebeleien wurden zu jener Zeit nicht gern gesehen. Dennoch mochte Peiqin den Film, vor allem wegen seiner idealistischen Erkennungsmelodie: »Kleine Schwalbe, kleine Schwalbe, / warum kommst du immer wieder? / – Im Frühling, im Frühling blüht hier der allerschönste Flieder …«
Das »hier« des Liedes bezog sich auf einen Ort irgendwo an der Nordwestgrenze Chinas, eine verarmte, unterentwickelte, gottverlassene Gegend, in die heutzutage niemand freiwillig gehen würde.
Und doch blühte dort der allerschönste Flieder, wie die schlanke Krankenschwester, gespielt von der Schauspielerin Linfeng, vor sich hin trällerte, während ihr Gesicht vor revolutionärem Eifer strahlte. Jahre nach den Dreharbeiten emigrierte Linfeng nach Tokio und eröffnete ein vegetarisches Chinarestaurant. Dort sang sie das Lied nun gelegentlich für nostalgische Überseechinesen, auch wenn sie mittlerweile zu viele Kilos mit sich und zuviel Make-up auftrug. Aber man konnte schließlich nicht verlangen, daß eine Schauspielerin ihre Rolle – und die entsprechende Figur – ein Leben lang beibehielt.
Wie sich herausstellte, hatte das Kleid, das die Krankenschwester im Film trug, deren Mutter gehört, einer Dame aus besseren Kreisen, die sich der sozialistischen Revolution hartnäckig widersetzte. Der Film hatte Peiqin in ihrem Eindruck bestätigt, daß solche Kleider vor allem von Frauen der modebewußten Oberschicht getragen wurden.
Als sie Das goldene Joch einlegen wollte, fiel ihr Blick auf ein Buch, das sie aus der Bibliothek entliehen hatte. Der weißhaarige Verfasser auf dem Cover glich ihrem verstorbenen Vater. Die kurze biographische Angabe darunter lautete: »Shen Wenchang war vor 1949 ein bekannter Dichter und erwarb sich nach der Befreiung einen internationalen Ruf als Experte für Kostümkunde.«
Sie schlug das Buch auf, fand darin jedoch nur zwei kurze Absätze zum Thema qipao . Auch in der Literaturliste entdeckte sie kein Werk, das sich ausschließlich mit diesem Kleiderstil befaßte. Sie konnte also nur auf verstreute Erwähnungen hoffen.
Der alte Herr mußte mittlerweile hoch in den Achtzigern sein. Sie legte das Buch hin und betrachtete sein Foto. Wenn sie sich doch nur direkt mit einem solchen Experten unterhalten könnte, dachte sie wehmütig.
Um die Abendessenszeit klingelte das Telefon. Es war Chen, der bedauerte, daß Yu noch nicht zu Hause sei.
»Er war die letzten Tage so beschäftigt, daß er oft spät heimkam. Machen Sie sich keine Sorgen um ihn«, sagte sie. »Wie kommen Sie mit dem Literaturstudium voran?«
»Langsam, aber stetig. Tut mir leid, daß ich dafür einen so ungünstigen Zeitpunkt gewählt habe. Aber es wird wohl meine letzte Chance sein, noch einmal etwas anderes auszuprobieren«, sagte Chen. »Und wie läuft’s bei Ihnen?«
»Eher gemächlich. Ich schaue gerade ein paar Bücher durch. Alle reden vom roten qipao , da wollte ich mich ein wenig informieren.«
»Sie versuchen wieder einmal uns zu helfen, Peiqin. Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«
»Bisher noch nicht. Ich habe gerade mit einem Buch über Kostümgeschichte angefangen. Der Autor war auch Dichter.«
»Shen Wenchang?«
»Sie kennen ihn?«
»Ja, ein großartiger Wissenschaftler. Erst neulich kam ein Dokumentarfilm über ihn.«
»Den habe ich nicht gesehen. Ach übrigens, ich habe eine DVD von Random Harvest für Sie gekauft, nach dem Roman, den Sie so mögen.«
»Danke, Peiqin. Das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Ich kann es kaum erwarten, mir den Film anzusehen.« Dann fügte er noch hinzu: »Wenn Yu heimkommt, sagen Sie ihm doch bitte, daß er mich anrufen soll und … und wenn er mal vorbeikommt, könnte er die DVD ja mitbringen.«
7
BEIM AUFWACHEN MUSSTE Chen sich erst einmal zurechtfinden, nur mühsam tauchte er aus einem Meer von Gedanken auf.
Nach dem zweiten Leichenfund im Stadtzentrum und einem Medienrummel, der dem aufdringlichen Zirpen frühsommerlicher Zikaden glich, konnte er einfach nicht länger untätig zusehen. Das war er Yu ebenso schuldig wie Hong, die ihn über die neuesten Entwicklungen auf dem laufenden hielt und dabei stets freundlich lächelte, ganz im Gegensatz zum griesgrämigen Liao.
Doch als er noch einmal rekapitulierte, was
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