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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Wenn das Kleid tatsächlich so alt war, wie Shen behauptete, mußte es zur Zeit seiner Herstellung völlig unpopulär gewesen sein. Wer immer es genäht hatte, tat dies gegen die damals herrschende Mode. Das legte Motive nahe, die noch weiter in die Geschichte zurückreichten und damit nur noch mehr Fragen aufwarfen.
    Shen wollte sich gerade die letzte zappelnde Krabbe nehmen, als Chens Mobiltelefon schrillte. Shen, den das Klingeln erschreckte, ließ sie zurück in die Schüssel fallen, wo sie sich aufbäumte, als sei sie ihrem Schicksal entronnen.
    Der Anruf kam von einem Journalisten der Wenhui Tageszeitung , der Chens Theorie zu den qipao -Morden hören wollte.
    »Es tut mir leid, mit einer Theorie kann ich nicht aufwarten. Ich habe Urlaub und arbeite an einer literarischen Studie.«
    Kaum hatte er den Anruf beendet, bereute er seine Äußerung. Sie war zwar korrekt, würde aber nur Anlaß zu Spekulationen geben.
    »Stimmt das?« wollte Shen wissen und erhob sich mühsam. »›Die nutzlosesten sind die Gelehrten‹, so einer wie ich, aber fähige Ermittler wie Sie dürften selten sein.«
    Chen sprang auf, um dem alten Herrn zu helfen, erwiderte aber nichts.
    Neben dem Eingang standen große Aquarien mit lebenden Krabben und Fischen. Sie alle schwammen munter umher, nicht ahnend, daß schon die nächste Bestellung ihr Schicksal besiegeln konnte.

9
    VOR DEM RESTAURANT trat Shen langsam an die Gehsteigkante und senkte den wie eine Krabbe gekrümmten Körper vorsichtig in ein Taxi.
    Während er dem Wagen nachwinkte, rügte Chen sich selbst für dieses Bild. Shen war ein kreativer Dichter und ein kreativer Wissenschaftler. Vielleicht hatte sein wissenschaftlicher Erfolg mit seiner imagistischen Poesie zu tun. Er sah das Kleid nicht nur als ein Stück Stoff, sondern als Bild mit vielfältigen Bedeutungen und Assoziationen, eine Metapher mit Eigenleben, die mehr aussagte als ein langer Text.
    Chen erinnerte sich an ein ähnlich bildkräftiges Kleidungsstück in Random Harvest . Dort war es eine »kleine Pelzkappe, ähnlich einem Fez«, die die Heldin bei ihrem ersten Erscheinen trug. Diese Kopfbedeckung war von symbolischer Bedeutung für den Text, denn auch die Nichte der Heldin trug später eine solche fezartige Pelzkappe. Chen verstand das als subtilen Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen den beiden Figuren. Damals kannte er das englische Wort fez noch nicht. Er hatte im Wörterbuch nachgeschlagen und dort die Erklärung »rote Kopfbedeckung aus Filz in Form eines umgedrehten Blumentopfs« gefunden.
    Bei seiner sentimentalen Vorliebe für den Roman würde eine Verfilmung es schwer haben, dem Buch gerecht zu werden. Daher hatte er an die DVD, die ihm Peiqin geschickt hatte, keine großen Erwartungen, zumal es ein Schwarzweißfilm war, in dem die Kopfbedeckung kaum zur Geltung käme.
    Wie aber hatte man den roten qipao zu deuten?
    Die Frage nahm ihn so gefangen, daß er dem Taxi noch winkte, als es längst außer Sicht war.
    Eine gelungene Metapher mußte für Autor und Leser gleichermaßen bedeutungsvoll sein. Bei einer mißlungenen Metapher war die Bedeutung so speziell, daß sie nur dem Autor verständlich war, nicht aber dem Leser.
    Doch der Mörder war kein Autor, der sich Gedanken machte, ob seine Leser ihn verstanden. Je mehr Rätsel er den anderen aufgab, desto befriedigender für ihn, desto erfolgreicher sein Auftritt.
    Ein Vibrieren in seiner Hosentasche riß Chen aus seinen Gedanken. Sein Mobiltelefon. Das Display zeigte die Nummer von Parteisekretär Li.
    »Ich möchte, daß Sie Ihren Urlaub sofort unterbrechen. Vergessen Sie Ihre literarischen Studien, Genosse Oberinspektor Chen. Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, daß wir den Mörder unbedingt finden müssen, bevor er erneut zuschlägt.«
    »Ich verfolge die Ermittlungen mit großer Aufmerksamkeit, Parteisekretär Li.«
    Das entsprach durchaus der Wahrheit. Gleichwohl verschwieg Chen seine Aktivitäten in dieser Sache. Der Mörder war seines Erachtens nicht nur hochintelligent, sondern auch gut vernetzt. Chen sah es als Vorteil an, hinter den Kulissen zu stehen, und dort wollte er auch bleiben.
    »Die Stadtregierung ist höchst beunruhigt über den Fall. Ein führender Genosse hat heute morgen erneut Ihren Namen genannt.«
    »Ich weiß. Ich werde mit Hauptwachtmeister Yu sprechen.«
    »Dann kommen Sie also heute nachmittag ins Präsidium?«
    »Heute Nachmittag …« Er schätzte es gar nicht, daß Li ihn zurück ins Büro beordern wollte. »Sie

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