Blut und rote Seide
Schluck Tee. »Seit die Stadt sich der kollektiven Nostalgie hingibt, sind Geschichten über die großen Familien von damals sehr beliebt. Schicksal einer Shanghaier Schönheit , Sie kennen das. Warum sollte ich zulassen, daß ihr Andenken ausgeschlachtet wird.«
»Da haben Sie sich völlig richtig verhalten, Professor Xiang. Diese selbsternannten Schriftsteller dürfen nicht von ihrem Leid profitieren.«
»Nein, man wird sie nicht noch einmal in diesen erniedrigenden Schmutz ziehen.«
Xiangs Stimme bebte. Nicht weiter verwunderlich für einen ihrer Verehrer, doch die Formulierung »erniedrigender Schmutz« ließ erkennen, daß er mehr wußte.
»Ich gebe Ihnen mein Wort, Professor Xiang, daß ich nicht auf Sensationsgeschichten aus bin.«
»Sie erwähnten einen Fall …« Xiang klang verunsichert.
»Im Moment kann ich Ihnen dazu nichts Genaues sagen. Nur soviel: Mehrere Menschen sind gestorben, und weitere werden sterben, wenn wir den Mörder nicht aufhalten.« Chen nahm die Zeitschrift und die Fotos aus seiner Tasche. »Sicher kennen Sie diese Zeitschrift.«
»Ja, auch die Aufnahme«, sagte Xiang, während er die Abzüge durchsah. Sein blasses Gesicht war ernst geworden, er trat an eines der Bücherregale und zog ein Heft von Chinesische Fotografie heraus. »Ich habe es all die Jahre aufbewahrt.«
Ein Lesezeichen mit roter Quaste markierte die Seite mit dem Foto. Das Lesezeichen mußte neu sein, denn es zeigte die »Perle des Orients«, den Shanghaier Fernsehturm in Pudong, der in den Neunzigern gebaut worden war.
»Das Heft ist jahrzehntealt«, bemerkte Chen. »Es muß doch eine Geschichte zu dem Foto geben.«
»Ja, und die ist lang. Darf ich fragen, wie alt Sie bei Ausbruch der Kulturrevolution waren?«
»Noch in der Grundschule.«
»Dann kennen Sie immerhin den Hintergrund.«
»Natürlich. Aber bitte erzählen Sie von Anfang an, Professor Xiang.«
»Für mich begann die Geschichte in den frühen sechziger Jahren. Ich war gerade ans Konservatorium versetzt worden, wo Mei bereits seit zwei Jahren arbeitete. Schön und talentiert, wie sie war, genoß sie die Bewunderung aller. Damit Sie mich nicht falsch verstehen, Oberinspektor Chen, für mich war sie vor allem eine Quelle der Inspiration. Ich war frustriert darüber, daß ich keine klassische Musik spielen durfte – nichts außer ein paar Revolutionsliedern. Sie jedoch brachte Licht in den Probenraum. Wäre sie nicht gewesen, so hätte ich damals wohl aufgegeben.«
»Sie erwähnten, daß sie von allen bewundert wurde«, sagte Chen. »Gab es auch Annäherungsversuche? Wissen Sie da etwas, oder haben Sie dergleichen gehört?«
»Was soll das heißen?« Xiang funkelte ihn böse an.
»Im Zuge der Ermittlungen muß ich Sie das fragen, Professor Xiang. Ich will ihr Andenken damit nicht schmälern.«
»Nein, davon weiß ich nichts. Eine Frau mit ihrem Familienhintergrund mußte sehr vorsichtig sein. Jeder zweideutige Klatsch hätte fatale Folgen für sie gehabt. Wir lebten damals in Zeiten kommunistischer Prüderie. Sie sind wohl zu jung, um das zu verstehen. Im ganzen Land war nicht ein einziges romantisches Liebeslied zu hören.«
»Der Große Vorsitzende wollte, daß sich die Menschen ganz der sozialistischen Revolution hingaben, da war kein Platz für romantische Liebe …« Hier brach Chen unvermittelt ab. Er fühlte sich an sein Literaturreferat erinnert, nur daß es sich dort um den Konfuzianismus handelte. »Meis Mann arbeitete doch auch am Konservatorium, nicht wahr?«
»Ja, Ming Deren. Er unterrichtete. Keine sehr bemerkenswerte Figur. Die Heirat war wohl – zumindest teilweise – von den Eltern arrangiert. Sein Vater war vor 1949 ein erfolgreicher Bankier gewesen, ihrer dagegen nur ein Anwalt, der sich mühsam über Wasser hielt. Das Anwesen der Mings war eines der extravagantesten in der Stadt.«
»Ja, ich habe von dieser Villa gehört. Hatten die beiden Eheprobleme?« fragte Chen.
»Nicht, daß ich wüßte, doch als Außenstehender sah man, daß er ihr nicht das Wasser reichen konnte.«
»Verstehe.« Chen war klar, daß in Xiangs Augen niemand das konnte. »Und wie haben Sie von dem Foto erfahren? Hat sie davon erzählt oder Ihnen die Zeitschrift gezeigt?«
»Nein, aber wir teilten uns ein Büro. Ich war zufällig bei einem ihrer Telefongespräche mit dem Fotografen zugegen. Daraufhin habe ich mir das Heft gekauft.«
»Nun zu dem Kleid, das sie auf dem Bild trägt – haben Sie es sonst je an ihr gesehen?«
»Nein, weder vor der
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