Blut und rote Seide
Jahren hier«, sagte Zhao entschuldigend. »Und die Leute reden nicht gern über die Kulturrevolution.«
»Ja, die Regierung möchte, daß die Menschen nach vorne schauen, nicht zurück.«
»Sie sollten mit den Altgedienten hier im Haus reden. Vielleicht wissen die etwas, oder sie kennen jemanden, der Ihnen weiterhelfen kann«, sagte Zhao und schrieb ein paar Namen auf ein Blatt Papier. »Viel Erfolg.«
Doch die Leute, die Mei gekannt hatten, waren entweder pensioniert oder bereits gestorben. Nachdem Chen eine Weile herumgeirrt war, traf er auf Professor Liu Zhengquan von der Instrumentenabteilung.
»Das ist Mei!« sagte Liu nach einem Blick auf das Foto. »Aber ich sehe diese Aufnahme zum erstenmal.«
»Können Sie mir von ihr erzählen?«
»Die Blüte der Schule, zu früh in den Staub gefallen.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Ich weiß es wirklich nicht mehr. Sie war Mitte Dreißig damals. Ihr Sohn muß etwa zehn gewesen sein. Eine echte Tragödie.«
»Was ist aus dem Sohn geworden?«
»Keine Ahnung. Wir arbeiteten nicht in derselben Abteilung. Da müssen Sie sich mit jemand anderem unterhalten.«
»Haben Sie vielleicht eine Idee, an wen ich mich wenden könnte?«
»Nun, am besten sprechen Sie mit Xiang Zilong. Er ist mittlerweile im Ruhestand, wohnt im Bezirk Minghang. Hier ist seine Adresse. Soviel ich weiß, hat er noch immer ein Bild von Mei in seiner Brieftasche.«
Das sollte wohl heißen, daß Xiang ein Bewunderer und Verehrer von Mei gewesen war.
Chen bedankte sich bei Liu und beschloß nach einem Blick auf seine Uhr, direkt nach Minghang hinauszufahren. Er durfte keine Zeit verlieren.
Minghang, ehemals ein Industriegebiet am Stadtrand, war mittlerweile durch eine U-Bahn-Linie angebunden. Er ließ sich mit dem Taxi zur nächsten Haltestelle bringen, und nach zwanzigminütiger U-Bahn-Fahrt nahm er sich an der Endstation erneut ein Taxi.
Shanghai dehnte sich unaufhaltsam aus, und Minghang war inzwischen ein Wohngebiet mit zahlreichen neuen Apartmenthäusern, die in der Nachmittagssonne erstrahlten. Der Fahrer mußte eine Weile suchen, bis er Xiangs Gebäude fand.
Chen stieg die Betontreppe in den zweiten Stock hinauf und klopfte an einer Tür aus Eichenimitat. Sie wurde vorsichtig geöffnet von einem großen, hageren Mann in wattiertem Überkleid und Fellpantoffeln, dem Chen seine Karte entgegenstreckte. Der Empfänger inspizierte sie mit einem Ausdruck des Erstaunens in seinem zerfurchten Gesicht.
»Ja, ich bin Xiang. Und Sie sind Mitglied des Schriftstellerverbands?«
Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, diese Karte zu benutzen. Ein unerklärlicher Ausrutscher.
»Oh, ich habe die Karten verwechselt. Ich bin Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium, aber ich bin auch Mitglied des Schriftstellerverbands.«
»Möglich, daß ich schon von Ihnen gehört habe, Oberinspektor Chen«, sagte Xiang. »Ich weiß nicht, welcher Wind Sie zu mir weht, aber kommen Sie doch herein, ob als Dichter oder als Polizeibeamter.«
Xiang goß Chen Tee aus einer Thermoskanne ein, sich selbst füllte er heißes Wasser nach. Chen bemerkte, daß er leicht hinkte.
»Haben Sie sich den Knöchel verstaucht, Professor Xiang?«
»Nein, Kinderlähmung im Alter von drei Jahren.«
»Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie unangemeldet aufsuche, aber es geht um einen wichtigen Fall. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Chen, der auf einem Plastikklappstuhl an einem offenbar maßgefertigten, extralangen Tisch Platz genommen hatte. Dieses Möbelstück beherrschte das gesamte Wohnzimmer, an den Wänden standen Bücherregale. »Fragen bezüglich Mei, Ihrer früheren Kollegin.«
»Mei? Es ist Jahre her, daß wir Kollegen waren. Warum?«
»Der Fall betraf – und betrifft – nicht Mei persönlich, aber Informationen über sie könnten unseren Ermittlungen weiterhelfen. Was Sie mir erzählen, wird vertraulich bleiben.«
»Sie wollen etwas über sie schreiben, nicht wahr?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Vor einigen Jahren ist schon mal jemand dagewesen und wollte Informationen über sie. Ich habe ihm aber nichts erzählt.«
»Wer war das?« hakte Chen nach. »Erinnern Sie sich noch an seinen Namen?«
»Den habe ich vergessen, aber er hat sich auch nicht ausgewiesen. Sagte, er sei Schriftsteller. Das kann jeder behaupten.«
»Können Sie mir den Mann beschreiben?«
»Er war Anfang bis Mitte Dreißig, hatte gute Manieren, sprach aber ziemlich ausweichend. Das ist alles, was ich noch weiß.« Xiang trank einen
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