Blut und rote Seide
freigelassen?«
»Ja, er kam am Nachmittag zurück, aber als er an der Tür stand, machte er kehrt und rannte die Treppe hinunter. Einer der Nachbarn sagte aus, daß sie stürzte, als sie ihm nachlaufen wollte.«
»Das ist doch sonderbar. Selbst wenn er sie im Bad angetroffen hätte, wäre das doch kein Grund zum Weglaufen gewesen. Genausowenig hätte sie ihm unbekleidet nachlaufen müssen.«
»Sie hing sehr an ihrem Sohn. Vielleicht hat sie sich vor lauter Freude selbst vergessen.«
»Und was hat der Leiter des Propagandatrupps zu ihrem Tod gesagt?«
»Daß es ein Unfall war. Mehr nicht.«
»Hat jemand die Umstände ihres Todes in Zweifel gezogen?«
»Nein, seinerzeit nicht. Ich selbst war in Schwierigkeiten geraten, weil ich ›die Studenten mit dekadenter westlicher Klassik vergiftete‹. Wie die Gipsstatue, die den Fluß überquert, konnte ich mich selbst kaum schützen«, sagte Xiang. »Nach dem Ende der Kulturrevolution dachte ich daran, mich an die Fabrik des Genossen Revolutionäre Aktivität zu wenden. Er hatte nie erklärt, was er eigentlich in ihrer Nachbarschaft zu suchen hatte. Als Leiter des Propagandatrupps hätten sich seine Aktivitäten auf das Konservatorium beschränken müssen. Warum war er überhaupt im Haus? Doch dann zögerte ich, weil ich nichts Konkretes gegen ihn vorbringen konnte, außerdem wollte ich ihr Andenken nicht erneut in den Schmutz ziehen. Schließlich erfuhr ich, daß es ihn selbst hart getroffen hat, eine Serie von Mißgeschicken; am Ende wurde er gefeuert und bestraft.«
»Moment mal – dieser Genosse Revolutionäre Aktivität, wissen Sie noch, wie er richtig hieß?«
»Nein, aber das kann ich herausfinden«, sagte Xiang. »Werden Sie gegen ihn ermitteln?«
»Ist Ihnen sonst noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Ja. Normalerweise stammten die Mitglieder des Propagandatrupps, der an eine Schule oder Hochschule geschickt wurde, alle aus derselben Fabrik. Aber in unserem Fall kam der Leiter, jener Genosse Revolutionäre Aktivität, aus einer anderen Fabrik als die übrigen Mitglieder.«
»Auch das ist auffällig«, bestätigte Chen und zog ein kleines Notizbuch hervor. »Woher kam er?«
»Shanghaier Stahlwerk Nummer drei.«
»Wie alt war er damals?«
»Ende Dreißig, Anfang Vierzig.«
»Ich werde dem nachgehen«, sagte Chen. Das hieße, daß der Leiter des Propagandatrupps, ganz gleich, was er verbrochen haben mochte, jetzt Mitte Sechzig sein mußte, wohingegen der Mann auf dem Sicherheitsvideo des Joy Gate etwa halb so alt war. »Hat man nach ihrem Tod etwas unternommen?«
»Ich war völlig niedergeschmettert. Ich wollte Blumen aufs Grab schicken – das wäre das mindeste gewesen. Doch ihre Leiche wurde ins Krematorium gebracht, und man hat die Asche nachts irgendwo verstreut. Es gab keinen Sarg und keinen Grabstein. Ich habe sie im Leben ebensowenig unterstützt wie im Tod. Was bin ich doch für ein erbärmlicher Schwächling!«
»Seien Sie nicht so hart mit sich selbst, Professor Xiang. Damals hatten wir Kulturrevolution. Das ist alles lange vorbei.«
»Lange vorbei«, wiederholte Xiang und nahm eine Schallplatte mit einer neuen Plattenhülle aus dem Regal. »Ich habe ein klassisches Gedicht vertont, zu ihrem Angedenken.«
Chen besah sich das Cover, auf dem ein Text von Yan Jidao abgedruckt war; im Vordergrund tanzte eine verschwommene Figur in fließendem rotem Kleid.
Verkatert erwache ich und blicke
zur hohen Balkontür hinauf,
verschlossen von einem
tief hängenden Vorhang. Letzten Frühling,
im frischen Schmerz der Trennung,
stand ich lange und allein,
zwischen fallenden Blütenblättern:
Ein Schwalbenpaar flatterte
durch Nieselregen.
Ich weiß noch,
wie die Kleine Ping sich zum erstenmal zeigte,
in ihren Seidenkleidern, bestickt
mit dem zweifachen Zeichen für Herz,
und ihre Leidenschaft
den Seiten der Pipa anvertraute.
Ein leuchtender Mond beschien ihre Rückkehr
wie eine strahlende Wolke.
»Sie wird das zu schätzen wissen – drüben im Jenseits«, sagte Chen. »Falls es das gibt.«
»Ich hätte ihr das Lied gern gewidmet«, gestand Xiang. »Aber ich habe meiner Frau nie etwas von Mei erzählt.«
»Keine Sorge. Alles, was Sie mir mitgeteilt haben, wird vertraulich behandelt.«
»Sie dürfte bald zurück sein«, sagte Xiang und schob die Platte in das Regal zurück. »Nicht daß sie unvernünftig wäre, aber …«
»Nur eine Frage noch, Professor Xiang. Sie erwähnten Meis Sohn. Haben Sie je wieder von ihm
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