Blut und rote Seide
Zu Fei sagte er: »Sie können schon mal vorgehen. Danke für Ihre Kooperation.«
»Sie sind also doch wer«, sagte die alte Dame, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Mehr als zehn Jahre mußte ich in diesem Zimmer kochen, und Sie haben das Problem in einer halben Stunde gelöst.«
»Nicht der Rede wert. Ich bin ein Bewunderer von Herrn Kongs Arbeiten«, erwiderte er. »Das Büro des Nachbarschaftskomitees ist ja genau gegenüber, ich habe kurz dort vorbeigeschaut und von Ihren Problemen berichtet.«
»Ich nehme an, Sie wollten mir einen Gefallen tun«, sagte sie, »und das verpflichtet mich. Ein Dampfbrötchen fällt nicht einfach vom Himmel, wie jeder weiß.«
Wieder erschien die schwarze Katze. Die alte Dame hob sie auf ihren Schoß, doch das Tier sprang herunter und rollte sich statt dessen auf dem Fensterbrett zusammen.
»So dürfen Sie das nicht sehen. Ich habe nur meine Pflicht als Polizist getan.«
»Eines muß ich Sie fragen. Werden Sie dieses Foto gegen jemanden verwenden? Das hätte mein Mann nämlich auf gar keinen Fall gewollt.«
»Ich werde Ihnen etwas erzählen, Tante Kong.« Er stützte sich mit der Hand an der Mauer ab, die sich klebrig anfühlte – vermutlich vom vielen Kochen. »Bevor ich hierherkam, war ich im Jing’an-Tempel, wo ich vor Buddha gelobt habe, ein guter und gewissenhafter Polizist zu sein. Und ob Sie es glauben oder nicht, unmittelbar danach habe ich von der Existenz dieser Fotografie erfahren.«
»Ich glaube Ihnen. Aber ist denn diese Aufnahme wirklich so wichtig für Sie?«
»Sie könnte zur Aufklärung eines Mordfalls beitragen. Andernfalls hätte ich Sie nicht unangemeldet aufgesucht.«
»Wie kann ein Foto, das vor fast dreißig Jahren aufgenommen wurde, mit einem aktuellen Mord in Verbindung stehen?« fragte sie ungläubig.
»Im Moment ist es zwar nur eine vage Vermutung, aber wir können es uns nicht leisten, sie zu ignorieren. Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, daß das alles nichts mit Ihrem Mann zu tun hat.«
»Wenn ich mich heute noch an dieses Bild erinnere«, begann sie zögernd, »dann nur deshalb, weil es ihm so wichtig war. Er hat jede freie Minute dafür verwendet und wie ein Besessener gearbeitet. Ich habe damals schon befürchtet, er wäre diesem schamlosen Modell verfallen.«
»Ein wahrer Künstler muß sich ganz seinem Projekt verschreiben, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Solche Meisterwerke zu schaffen erfordert eine Menge Energie.«
»Es stellte sich dann aber heraus, daß sie eine anständige Frau aus guter Familie war. Später hat er mich wegen meines Mißtrauens verspottet: ›Ich ihr verfallen? O nein, hältst du mich etwa für die schmutzige Kröte, die nach einem makellos weißen Schwan lechzt?‹ sagte er. ›Was mich reizt, ist die Tatsache, daß noch kein Fotograf sie angesprochen hat; es ist, als hätte man eine Goldmine entdeckt.‹«
»Hat er Ihnen erzählt, wie er auf sie aufmerksam wurde?«
»Bei einem Konzert, glaube ich. Sie spielte Geige. Zunächst wollte sie ihm nicht Modell stehen. Es dauerte einige Zeit, bis er sie überreden konnte. Schließlich willigte sie unter der Bedingung ein, daß ihr Sohn mit auf das Bild käme. Das gab ihm neue Inspiration – Mutter und Sohn, nicht einfach nur eine schöne Frau.«
»Sie muß ihren Sohn sehr geliebt haben.«
»Das dachte ich auch. Man ist unwillkürlich gerührt, wenn man die beiden auf dem Foto sieht.«
»Hat er Ihnen gesagt, wie sie heißt?«
»Das hat er wohl, aber ich weiß es nicht mehr.«
»Erinnern Sie sich noch an Einzelheiten während der Aufnahmen? Zum Beispiel die Wahl des Kleides?«
»Ihm schwebte eine asiatische Schönheit vor, und ein qipao brachte dies am besten zur Geltung. Aber das Kleid muß von ihr gewesen sein; er hätte sich so etwas nicht leisten können. Leider weiß ich nicht mehr, wessen Idee das war.«
»Wo wurde das Bild aufgenommen?«
»Sie wohnte in einer Villa, also vermutlich in ihrem Garten. Er verbrachte einen ganzen Tag dort und hat fünf oder sechs Filmrollen verknipst. Dann hat er sich eine Woche lang wie ein Maulwurf in seiner Dunkelkammer verkrochen. Er war so fasziniert, daß er die Aufnahmen eines Abends alle mit nach Hause brachte und mich bat, eines für den Wettbewerb auszusuchen.«
»Und Sie haben das richtige gewählt.«
»Nachdem man ihm den Preis zugesprochen hatte, begann er unruhig zu werden. Zuerst wollte er nicht darüber reden, aber ich erfuhr aus einem Zeitungsausschnitt, den er in seiner
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