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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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gehört?«
    »Das mit dem konterrevolutionären Slogan wurde nie geklärt. Jedenfalls blieb er als Vollwaise zurück. Er wurde zu Verwandten gebracht. Nach der Kulturrevolution besuchte er, soweit ich weiß, die Oberschule.«
    »Wissen Sie vielleicht, welche?«
    »Nein. Es ist lange her, daß ich zuletzt etwas über ihn hörte. Aber wenn es wichtig ist, kann ich mich erkundigen. Das sind nur ein paar Anrufe.«
    »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das tun könnten.«
    »Nicht der Rede wert, Oberinspektor Chen. Endlich setzt sich ein Polizist für sie ein. Ich bin es, der Ihnen verbunden ist«, erklärte Xiang mit Nachdruck. »Nur eine Bitte habe ich. Könnten Sie mir, wenn Ihre Ermittlungen abgeschlossen sind, Abzüge dieser Fotos überlassen?«
    »Natürlich. Die kann ich Ihnen schon morgen zuschicken.«
    »Zehn Jahre, zehn Jahre, / das Nichts / zwischen Leben und Tod«, sinnierte Xiang. Dann meinte er: »Ich denke, in der Umgebung der Villa ließe sich noch einiges in Erfahrung bringen.«
    »Haben Sie die Adresse?«
    »Es ist eine dieser berühmten Villen an der Hengshan Lu, gleich an der Ecke Baoqing Lu. Jeder dort kennt sie. Inzwischen ist ein Restaurant daraus geworden. Ich war einmal dort und habe ihre Karte mitgenommen.« Xiang suchte in einer Schachtel mit Visitenkarten. »Hier ist sie. Nennt sich jetzt Altes Herrenhaus.«

24
    ES WAR BEREITS nach acht Uhr, als Chen in der Hengshan Lu eintraf.
    Das dortige Nachbarschaftskomitee war schwer zu finden. Ihm war kalt, wieder erfaßte ihn leichter Schwindel; er wollte schon aufgeben, doch dann riß er sich zusammen.
    Jetzt, wo die Identität der Trägerin des originalen qipao bekannt war, konnte er den Fall neu aufrollen.
    Auch wenn Xiang das Gegenteil behauptete, war nicht auszuschließen, daß Mei selbst in diesen puritanischen Zeiten weitere Verehrer gehabt hatte. Der pensionierte Professor war in dieser Hinsicht kein verläßlicher Chronist.
    Vor allem mußte man die Mitglieder dieses Mao-Propagandatrupps näher unter die Lupe nehmen. Womöglich hatte der Genosse Revolutionäre Aktivität sich dem Trupp nur angeschlossen, um in ihrer Nähe zu sein. Das würde ihn zu einem potentiellen Verdächtigen in der nachfolgenden Tragödie machen.
    Mögliche Szenarios gab es viele. Zuerst mußte er durch das Nachbarschaftskomitee mehr über Mei in Erfahrung bringen.
    Er fand dessen Büro schließlich in einer schäbigen Nebenstraße hinter der Hengshan Lu, gesäumt von zweistöckigen Häusern, eintönig und heruntergekommen, die an Streichholzschachteln erinnerten. Ein Schild wies den Weg zu einem Bauernmarkt. Das Nachbarschaftsbüro war nicht besetzt. Von einem Straßenhändler, der Zigaretten verkaufte, erfuhr er jedoch Name und Adresse des leitenden Kaders.
    »Weng Shandan. Sehen Sie das Fenster im zweiten Stock, das zum Markt hinausgeht?« Der Händler bibberte im kalten Wind und nahm eine Zigarette von Chen an. »Das ist ihr Zimmer.«
    Chen ging zu dem Haus hinüber und stieg die Treppe hinauf. Weng, eine lebhafte Frau Mitte Vierzig, spähte mit fragend gerunzelter Stirn durch den Türspalt. Sie schien ihn für einen neuen Nachbarn zu halten, der Hilfe brauchte. Eine Wärmflasche in der Hand stand sie in Wollsocken auf dem grauen Zementboden. Ihr einziges Zimmer mußte für alle Lebensbereiche dienen und eignete sich nicht unbedingt zum Empfang unerwarteter Gäste.
    Sie war gerade dabei, am Fußende ihres Bettes Totengeld zu falten; ihr Mann half ihr, indem er die Silberfolie glattstrich. Solch abergläubische Praktiken standen dem leitenden Kader eines Nachbarschaftskomitees nicht gut an; doch heute war, wie Chen sich erinnerte, die Nacht der Wintersonnenwende. Er selbst hatte ja auch silbernes Totengeld gekauft und es für Hong im Tempel verbrannt. Vielleicht erklärte das Wengs Widerstreben, Besuch zu empfangen.
    »Tut mir leid, daß ich Sie so spät noch störe, Genossin Weng.« Chen reichte ihr seine Karte und erläuterte den Zweck seines Besuchs, wobei er die Nachforschungen über die Familie Ming in den Vordergrund stellte.
    »Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht viel weiterhelfen«, sagte sie. »Wir sind erst vor fünf Jahren hergezogen. Da wohnten die Mings schon lange nicht mehr hier. In den letzten Jahren hat sich dieses Viertel sehr verändert, vor allem entlang der Hengshan Lu. Der neuen Politik folgend, wurden die ehemaligen Privathäuser ihren ursprünglichen Besitzern zurückgegeben. Einige von ihnen sind wieder eingezogen, viele andere

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