Blut und Silber
Worten des jungen Vogtes ließ keinen Zweifel daran, dass auch der Geistliche unter Verdacht stand.
Ein letztes Mal sah Pater Clemens dem alten Arzt ins Gesicht, wissend und voller Mitgefühl. »Der Herr wird dich mit offenen Armen empfangen«, sagte er, bevor er beiseitetrat.
Marsilius schloss für einen Moment die Augen. Dann richtete er seinen Blick wieder auf den blauen Himmel.
Vielen von denen, die dort unten standen und ihn anstarrten, hatte er mit seiner Heilkunst geholfen. Er hatte sie am Krankenbett aufgesucht, ihre gebrochenen Knochen gerichtet oder sie mit seinen Arzneien vorm Fiebertod gerettet. Sie alle kannten ihn, und umso mehr störte es ihn, dass sie gleich seinen im Todeskampf zuckenden Körper begaffen würden. Er war Arzt, er wusste genauso gut wie der Henker bis ins letzte Detail, wie sein Tod ablaufen würde.
So fühlte er sich durch die Vorstellung zusätzlich erniedrigt, dass die Leute dort unten gleich sehen würden, wie sich im Todeskampf seine Blase und sein Gedärm entleerten. Falls er es nicht schaffte, so ins Leere zu springen, dass ihm ein Halswirbel brach und er sofort tot war, würden sie alle auch noch Augenzeugen davon werden, wie sich durch den Blutstau sein Glied ein letztes Mal aufrichtete.
Zwar sollte er sich lieber Sorgen um sein Seelenheil als um solche Einzelheiten machen, doch das detailreiche Wissen seines Berufsstandes kam ihm dabei in die Quere. Außerdem hielt er sich mit diesen Überlegungen davon ab, nach Änne und Clementia Ausschau zu halten, die ganz vorn standen und sich vermutlich die Augen ausweinten. Bei ihrem Anblick würde es ihm wohl schwerfallen, weiter so gelassen zu erscheinen. Wenigstens standen sie dort unbehelligt von den Schergen des Vogtes, und das beruhigte ihn. Er hatte sie gleich entdeckt, als er zusammen mit seinen Schicksalsgefährten hierhergeführt worden war.
»Lasst Meister Conrad frei!«, schrillte erneut von weiter hinten eine Frauenstimme. Sofort fielen ein paar andere ein.
Aus dem Augenwinkel sah Marsilius, dass der Vogt – wie stets äußerst elegant gekleidet und mit Duftwasser besprenkelt, so dass der intensive Geruch bis zum Galgen drang – sich leicht vorbeugte und den Arm hob, um die Schreier zur Ruhe zu bringen. Doch das wurde von der zunehmend aufgebrachten Menge ignoriert. Daraufhin zogen drei Dutzend Bewaffnete ihre Schwerter. Der Anblick der blanken Klingen ließ die Wutschreie augenblicklich ersterben. Nur ein vielstimmiges Murmeln und Wispern wehte über den Platz. Der Vogt richtete sich auf, lächelte und erhob die Hand.
Schlagartig wurde es still.
Sein Lächeln musste einnehmend auf jemanden wirken, der ihn nicht kannte. Doch die Menschen auf dem Obermarkt wussten, das nun alles möglich war – von der Begnadigung bis zum Befehl, dem Verurteilten erst die Augen auszustechen, ihm die Zunge herauszureißen und ihn dann zu vierteilen, statt ihn aufzuknüpfen.
»Die Verbrechen dieses Mannes stehen außer Zweifel!«, rief der junge Vogt selbstgefällig in die Runde. »Sein Tod soll denen zur Abschreckung dienen, die sich erdreisten, sich gegen den König zu verschwören.«
Niemand wagte es nach diesen Worten, noch seinen Protest hinauszuschreien. Die Furcht war zu groß, mit der gleichen Anklage als Nächster zum Galgen gezerrt zu werden. Nur aus der Mitte der Menschenmenge erscholl erneut eine Frauenstimme. »Lasst Gnade walten für Marsilius!«
»Ich höre den Ruf um Gnade«, verkündete der königliche Burgvogt mit abgründigem Lächeln. Er verschränkte die Arme vor der Brust und kostete die wachsende Spannung aus.
»Jedermann hier soll wissen: Wir stehen im Krieg. Im Krieg gibt es keine Gnade für die Feinde des Königs. Doch angesichts seiner früheren Verdienste als Stadtphysicus bin ich geneigt, das Urteil abzumildern.«
Ein hundertfaches Aufstöhnen kam aus der Menge – aus Erleichterung oder auch aus Enttäuschung darüber, den grimmigen Arzt nicht hängen zu sehen. Wieder hob der Vogt den Arm, um Ruhe zu erzwingen.
»Danke Pater Clemens!«, sagte er zu Marsilius, dessen Gesicht nicht die erwartete Freude und Unterwürfigkeit zeigte, sondern reglos blieb. Doch der Vogt wusste, das würde sich mit seinen nächsten Worten ändern.
»Danke Pater Clemens«, wiederholte er und lächelte selbstzufrieden, während er auf die Reaktion des Arztes auf seine nächsten Worte lauerte, »und deinem Weib für die … leidenschaftliche Fürsprache.«
Conrad Marsilius fuhr so heftig herum, dass er beinahe von
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