Blut Von Deinem Blute
paar Stunden später gestorben wäre ...«
»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«
Doch Leon machte sich nicht die Mühe, ihre Frage zu beantworten. Er warf einen Blick auf den Rechnungsbetrag und zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche. »Warum ist dieser Julien eigentlich so überzeugt, dass seine Mutter von jemandem getötet wurde, der mit der Familie Bradley oder zumindest mit diesem Hotel zu tun hat?«
»Ach Gott, das meint er nicht so«, sagte Ginny. »Ich glaube, er ist einfach noch immer sehr wütend.«
Noch immer, dachte Leon. Konnte man fünfzehn Jahre lang wütend sein? »Warum? Weil die Familie seine Mutter so schlecht behandelt hat?«
Ihre Antwort erstaunte ihn: »Daraus kann man den Mädchen keinen Vorwurf machen«, erklärte sie. »Nicholas hat sie damals wirklich furchtbar vor den Kopf gestoßen. Allein die Art und Weise, wie er uns seine neue Frau präsentierte ...«
Uns ... »Würden Sie mir die Situation beschreiben?«
»Ich weiß nicht, aber ich habe irgendwas gespürt damals. So als ob etwas, das schon angeknackst gewesen ist, endgültig zerbrochen wäre.« Zwischen ihren sorgfältig gezupften Augenbrauen erschien eine tiefe Falte, und Leon fiel auf, dass sie mitgenommen aussah, obwohl sie ganz offensichtlich noch etwas vorhatte. Sie war außergewöhnlich stark geschminkt und trug ein elegantes schwarzes Kleid anstelle ihrer üblichen Hosenanzüge. »Ich weiß nicht warum, aber ich dachte immer, dass es damit angefangen hat.«
»Was?«
»Alles«, sagte sie. »Diese ganze Tragödie.«
Leons Blick fiel auf eine wunderschöne gelbe Rose, die hinter Ginny Marquette auf dem Schreibtisch stand, und er überlegte, warum sie sich überhaupt auf dieses Gespräch einließ. Und hatte die Tragödie, wie sie es nannte, tatsächlich erst mit Jacqueline Bressons Einzug ins Herrenhaus begonnen? Oder schon viel früher? Was war in diesem Fall Ursache, was Wirkung? In der Antwort auf diese Fragen lag zweifellos der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Und das Motiv ...
»Wir waren alle wie versteinert, damals«, setzt Ginny Marquette leise hinzu. »Das heißt alle bis auf Mia, die mit Wut reagierte, nachdem die erste Schrecksekunde vorüber war.«
»Hat sie sehr an ihrem Vater gehangen?«
Die Frau des Geschäftsführers drehte seine Kreditkarte zwischen ihren gepflegten Fingern hin und her. »Oh ja.«
»Und sie war es doch auch, die seine Leiche gefunden hat, nicht wahr?«
Sie nickte. »Die Arme war vollkommen außer sich, damals. Wir mussten sie mit drei Leuten festhalten, damit Dr. Jennings ihr eine Spritze geben konnte.«
»Sie hatte einen Nervenzusammenbruch?« Das war Leon neu. Und irgendwie passte ein Nervenzusammenbruch so gar nicht in das Bild, das er sich von Mia Bradley gemacht hatte. »Ich dachte eigentlich, dass sie ganz anders reagiert hätte. Viel ... planmäßiger.«
»Sie meinen, weil sie die Küche aufgewischt hat?« Um Ginny Marquettes Mundwinkel spielte etwas, das Leon nicht einordnen konnte. Es sah wie ein Lächeln aus, aber er war eigentlich sicher, dass es kein Lächeln war.
»Ja«, sagte er. »Zum Beispiel.«
»Die Polizei ist damals davon ausgegangen, dass der Schock über den grauenvollen Anblick diese«, jetzt suchte sie nach dem passenden Wort, »Kurzschlussreaktion ausgelöst hat.«
»Vielleicht hatte sie einen guten Grund«, sagte Leon.
»Aufzuwischen?«
»Spuren zu beseitigen.«
Keine Reaktion. Und keine Antwort.
Leon sah sie an. »Aber nachdem Mia aufgewischt hatte, ist sie zusammengebrochen?«, kam er noch einmal auf den Punkt zurück, von dem sie ausgegangen waren.
Ginny Marquette nickte. »Sie schrie und tobte und trat nach uns.«
»Ihr Vater war kurz vor seinem Tod mit ihr bei einem Arzt in London, nicht wahr?«
Auch das wissen Sie also!, sagte ihr Blick.
»Ein Psychologe?«
»Ich nehme es an.«
»Was wissen Sie über die Sache?«
»Im Grunde gar nichts«, wehrte sie ab. »Eines Morgens nach dem Frühstück setzte Nick sich mit ihr ins Auto und fuhr los. Abends rief er an und teilte uns mit, dass sie über Nacht bleiben müssten, weil mit Mia ein paar Tests gemacht würden.« Ihre Finger spielten noch immer mit der Kreditkarte. »Zwei Tage später waren sie wieder zurück.«
»Wissen Sie zufällig, was bei diesen Tests herausgekommen ist?«, fragte Leon, auch wenn ihm klar war, wie ihre Antwort ausfallen würde.
»Nein, Nick hat nie auch nur eine Silbe darüber verloren.« Sie zögerte kurz, bevor sie hinzufügte: »Zumindest nicht mir
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