Blut Von Deinem Blute
Treppengeländer, während ihre Schwester langsam und witternd auf sie zukam.
»Wovor hast du solche Angst?«
»Ich?«
»Quatsch nicht! Du triefst vor Angst! Der Angstgestank dringt dir aus jeder Pore. Er umgibt dich wie eine Wolke. Und er sitzt hier drin!« Sie streckte Laura den Parka entgegen. »Den kann ich nur noch wegschmeißen!«
Lauf!
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Nicht?« Jetzt grinste sie wieder. Aber es machte sie nicht freundlich. Im Gegenteil. Es steigerte ihre Gefährlichkeit. »Jetzt will ich dir mal was sagen, Herzchen«, flüsterte sie. »Du spielst deine Rolle, ich spiele meine. So weit, so gut. Aber bei dir«, sie kam noch näher, »bei dir ist da in den letzten paar Minuten was verrutscht. Deine schnuckelige kleine Miss-Perfect-Fresse hängt schief, und ich frage mich ...« Sie warf den Parka vor Laura auf den Boden wie einen Fehdehandschuh. »Ich frage mich, was das zu bedeuten hat!«
»Wovor sollte ich denn Angst haben?«, brach es aus Laura heraus, bevor sie sich selbst zum Schweigen bringen konnte.
»Das«, Mia trat einen Schritt zurück und ließ ihren Röntgenblick prüfend über Lauras Körper wandern, »werde ich schon herausfinden. Verlass dich drauf!« Dann drehte sie sich um und verschwand in der Diele. »Undwisch gefälligst endlich diese verdammte Apfelscheiße auf!«, hörte Laura sie noch rufen. »Schließlich bist du daran schuld!«
Ich denke gar nicht daran, dachte Laura. Das Aufwischen ist deine Sache! Ist es immer gewesen!
Im selben Moment fiel am Ende des Flurs krachend die Hintertür ins Schloss.
Wie von tausend Teufeln gehetzt, rannte Laura hinauf in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Dann wuchtete und zerrte sie unter erheblichen Anstrengungen die schwere Kommode, in der sie früher ihre Unterwäsche aufbewahrt hatte, davor, sank auf den Boden und lehnte ihren schweißnassen Rücken gegen das raue Holz.
Das Haus zu durchsuchen hatte keinen Sinn, zumindest nicht heute Nacht, wo Mia jederzeit wieder auftauchen konnte, unberechenbar wie sie war. Und überhaupt ... Sie konnte nicht sagen warum, aber sie war mit einem Mal sicher, dass ihre Schwester das Messer – falls es sich noch in ihrem Besitz befand – in der Scheune versteckt hatte. In jenem muffigen Raum, den sie so großspurig ihr Atelier nannte. Und genau dort würde sie danach suchen. Gleich Morgen früh.
Laura sah nach der Tür.
Vorausgesetzt, dass es überhaupt ein Morgen geben würde.
19
Leon starrte auf den Hals der Toten.
Zu so etwas ist sie nicht fähig, schoss es ihm durch den Sinn, ohne dass er hätte sagen können, ob er Laura oder Mia meinte. Oder beide ...
Aber die Frau, die in sich zusammengesunken vor ihm auf der Bank saß, war eindeutig ermordet worden. Die Frage war: von wem? Und: warum?
Leon zog sein Handy aus der Tasche. Aber noch zögerte er, den Notruf zu wählen. Vielleicht war es das Beste, wenn er sich zuerst einen Rat holte. Von jemandem, der wirklich etwas von diesen Dingen verstand.
Ich bin Wirtschafts jurist, stöhnte ein imaginärer Kevin.
»Aber immerhin Jurist«, widersprach Leon und drückte die Kurzwahl »2«. Die »3« gehörte Laura, die »1« war seltsamerweise unbesetzt. Warum, wusste er selbst nicht.
Während das entmutigende Freizeichen in seinem Ohr widerhallte, dachte er an das holprige Kopfsteinpflaster im Pausenhof seiner alten Schule. Und fast war ihm, als könne er wieder den Schotter fühlen, der sich zwischen den alten Steinen angesammelt hatte und der sich mit tausend Nadelstichen in seine Wange bohrte, während Marco Wittlich auf seinem Rücken kniete und ihm den Kopf auf den Boden drückte. Er war vierzehn gewesen damals, also beileibe kein Kind mehr, und Auseinandersetzungen auch nicht grundsätzlich aus dem Weg gegangen. Doch an diesem besonderen Morgen hatte Marco Wittlich ihn kalt erwischt und ihm wieder und wieder mit der Faust ins Gesicht geschlagen, während er immer tiefer in den Strudel lähmender Hilflosigkeit gezogen worden war. Unddann war Kevin aufgetaucht, der von einer zerrütteten Familie abgehärtete und wieselflinke Einzelkämpfer, der Marco Wittlich zuerst windelweich geprügelt und anschließend trotz massiver Drohungen zum Direktor geschleppt hatte.
Geh ran, verdammt noch mal, flehte Leon stumm vor sich hin. Lass mich um Gottes willen nicht hängen!
»Bogdanski«, klang im selben Augenblick ein wohlbekanntes Nuscheln aus dem Handy.
»Ich bin's.«
»Leon?« Husten. »Scheiße, es ist ... drei oder
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