Blut Von Deinem Blute
Sie riss die Küchentür auf und rannte zum Hinterausgang.
Beeil dich! Wer weiß, wie lange sie fortbleibt. Vielleicht fährt sie nur eine Runde um den Block. Oder sie will ein paar frische Äpfel besorgen, die sie nach dir werfen kann.
Sie flitzte an der Hauswand entlang, riss die Tasche mit ihrem Werkzeug unter dem Container hervor und lief dann geduckt wie ein Guerillakämpfer zur Scheune. Vor ihr verwandelte sich der Hof in eine beängstigend weite Fläche, den sprichwörtlichen Präsentierteller, auf dem es keine Deckung gab. Und kein Entrinnen. Unter ihren Sohlen spritzte der Sand weg, den der ewige Wind von den Dünen gerissen und hier abgeladen hatte. Hier, im Vorhof des Grauens. Einmal wäre sie fast gestolpert, doch sie fing sich und erreichte mit rasselndem Atem das Fenster an der Längsseite der Scheune. Den toten Winkel, von keinem der Nachbargrundstücke aus einsehbar.
Dort warf sie ihre Tasche auf den Boden und zerrte das Beil hervor.
Die Klinge war durch einen schwarzen Gummiaufsatz geschützt. Laura entfernte ihn mit zitternden Fingern. Dann fasste sie die Axt mit beiden Händen und hieb mit aller Kraft auf die Bretter ein. Krachend sauste die Klinge nieder, Holz splitterte und Laura fuhr erschrocken zusammen, als für ein paar Sekundenbruchteile das zerstörte Gesicht ihres Vaters vor ihr aufblitzte.
Weißt du eigentlich, wie das aussieht, wenn du das Hirn durch das Loch sehen kannst, das früher mal ein Auge war?
Laura hielt inne und wischte sich den Schweiß aus derStirn. Im Geiste sah sie ihre Schwester an der Kasse eines Supermarktes stehen. Sie wird angestarrt, nicht nur wegen der Fettflecken auf ihrem Pullover, doch das kümmert sie nicht im Geringsten. Leeren Blicks starrt sie auf das Netz mit Äpfeln, das vor ihr auf dem schwarzen Laufband liegt, und die blutverkrusteten Finger krallen sich um die abgegriffene Ledergeldbörse in ihrer Hand, während sich die Leute, die mit ihr in der Schlange stehen, im Stillen fragen, was das für eine Melodie ist, die zwischen ihren sanft geschürzten Lippen hervorquillt.
»Schubert«, flüsterte Laura. »Was sie da pfeift, ist das Ges-Dur-Impromptu von Franz Schubert.«
Sie warf einen resignierten Blick auf die Bohlen, die ihr noch immer den Eintritt verwehrten.
Denk an Josh! Hau diesen ganzen verdammten Kasten in Stücke!
Entschlossen riss sie das Beil über den Kopf und ließ es wieder und wieder auf die Bretter niedersausen. Und nach einer Zeit, die ihr unendlich vorkam, war es ihr tatsächlich gelungen, eine knapp fingerbreite Lücke zu schlagen. Dort setzte sie das Nageleisen an und warf sich mit aller Kraft dagegen, bis sich die Bohlen lockerten und schließlich ganz beiseite schieben ließen.
Aus dem Inneren der Scheune schlug Laura der beißende Geruch von Lösungsmitteln und Harz entgegen. Sie hielt den Atem an, ließ ihr Werkzeug fallen und kletterte in die Höhle der Löwin ...
Was für ein passender Ausdruck!
Erstickten Löwen ihre Beutetiere nicht üblicherweise, indem sie ihnen den Hals zudrückten? Laura hustete, als vor ihr, im Dunkel der Scheune, der Kopf der toten ConchitaPerreira aufblitzte, die Kehle halb freigelegt durch den tödlichen Biss ihrer Schwester ...
Sie schwankte. Nein, stopp, halt!, rief sie ihre Gedanken zur Ordnung. Mia hat sie nicht totgebissen. Sie hat ihr nur den Hals aufgeschlitzt!
Zitternd knipste sie die Taschenlampe an und sah sich um. Das Atelier war viel größer, als Laura es in Erinnerung hatte. Und zu ihrer Verwunderung wirkte es bei allem Chaos durchaus strukturiert. Überall standen Leinwände herum. Leinwände und Skulpturen.
Skulpturen auf dem Boden, auf Podesten, auf den Arbeitsflächen. Winzige und große. Erkennbare und abstrakte. Allerdings schienen sie nicht mehr aus Treibgut zu bestehen, sondern aus Ton, Gips, Holz oder was auch immer. Staunend ließ Laura den Strahl ihrer Lampe über die Objekte wandern, bis das Licht sich an einer kauernden Gestalt auf einer der Arbeitsplatten verfing. Eine alte Frau, allem Anschein nach, gebeugt und eigenartig weltentrückt. Fast so, als ob sie vergessen habe, wer sie sei ...
Worauf wartest du? Fang an!
Laura warf einen letzten Blick auf die Tür. Zu, verschlossen, alles klar.
Dann machte sie sich daran, die alte Scheune akribisch zu durchsuchen.
10
Leon hatte im Telefonbuch nachgeschlagen und herausgefunden, dass in St. Helier tatsächlich noch immer ein Arzt namens »Jennings« praktizierte – allerdings kein »John« wie zu Nicholas
Weitere Kostenlose Bücher