Blut Von Deinem Blute
Thema eingehen wollte. »Aber wenn ich hier irgendwas gelernt habe, dann, dass man niemandem helfen kann, der sich nicht helfen lassen will.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie hinzufügte: »Das solltest du vielleicht in deine Überlegungen einbeziehen.«
Leon schluckte. Dass sie so oft ins Schwarze traf, beunruhigte ihn zutiefst. »Übrigens habe ich deine Bilder jemandem gezeigt, der wirklich etwas von solchen Dingen versteht«, sagte er hastig. Zugleich schämte er sich dafür, mit etwas herauszuplatzen, über dessen Tragweite er sich selbst noch nicht im Klaren war, nur, um von seinen eigenen Problemen abzulenken.
»Wem denn?«, fragte Tonia, und in ihrer Stimme schwang eine brennende Neugier.
»Das erzähle ich dir, wenn ich wieder zu Hause bin, okay?«
Es war natürlich nicht okay, aber sie gab sich zufrieden.
»Ich habe hier eine Künstlerin kennengelernt, die in der Szene, glaube ich, recht bekannt ist«, kam Leon ihr aus lauter schlechtem Gewissen doch noch ein Stück entgegen.
»Und wo ist hier?«, fragte seine Schwester.
»Ach so, klar ...« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin auf Jersey.«
»Das erklärt zumindest, warum mein Guthaben fast aufgebraucht ist«, lachte Tonia.
Leon blieb stehen. »Entschuldige«, sagte er. »Soll ich dich zurückrufen?«
»Ja, später irgendwann«, erwiderte sie. »Jetzt kümmerst du dich erst mal um deinen Kram, okay?«
»Okay.« Seine Augen glitten über die Firmenschilder, die an den schmiedeeisernen Zäunen angebracht waren. B.S. Jennings , las er neben dem Tor mit der Nummer 24, Sprechstunden Montag bis Freitag ...
»Also, bis dann«, klang Tonias Stimme an seinem Ohr.
»Bis dann«, entgegnete er mechanisch. »Ach, und Tonia ...«
»Ja?«
Er holte tief Luft. »Wann kommst du wieder nach Hause?«
»Wenn ich gesund bin.«
»Also, für mich klingst du kerngesund.«
»Das täuscht.« Ihr Glockenlachen ließt die räumliche Distanz zwischen ihnen innerhalb von Sekundenbruchteilen auf eine Armlänge zusammenschmelzen. »Ich bin leider noch lange nicht so weit.«
»Woran machst du das fest?«, fragte Leon, ohne sicher zu sein, ob er ihre Antwort hören wollte.
»An dem Anfall, den ich hatte.«
»Wann?«
»Gestern.«
Leon nickte. »Gib acht auf dich«, sagte er leise. »Na klar«, entgegnete sie. Und etwas weniger forsch fügte sie hinzu: »Du auch ...«
11
Irgendwann hatte sie jede Plane hochgehoben, in jeden Winkel gespäht und jedes Behältnis geöffnet, das groß genug war, um ein Messer darin zu verstecken. Doch sie war nicht fündig geworden. Die Waffe, mit der ihre Stiefmutter getötet worden war und nach der sie so verzweifelt suchte, blieb verschwunden.
Ein Phantom ...
Erschöpft knipste Laura ihre Taschenlampe aus und ließ sich auf den staubigen Boden sinken. Die Verzweiflung kam plötzlich, wie angesprungen, und ließ ganze Bäche stummer Tränen an ihren Wangen hinunter rinnen. Sie tropften auf ihr T-Shirt, und Laura brauchte keinen Spiegel, um sich die hässlichen dunklen Ringe vorstellen zu können, die die Wimperntusche unter ihren Augen hinterließ. Eigenartigerweise musste sie dabei an die rostige Badewanne im ersten Stock des Herrenhauses denken. An den Schmutz, der in Jahresringen auf der stumpfen Emaille klebte. Altes Wasser, alte Tränen – flutweise Schmerz.
Während sie vor sich hin heulte, wurde draußen der Wind wieder stärker. Das morsche Holz ächzte unter seinem Druck, und Laura dachte an den Sturm, den die Meteorologen für die Mordnacht angesagt hatten. Konnte so etwas wie eine Schockstarre tatsächlich fünfzehn Jahre anhalten? Oder war das alles nur Zufall?
Du musst die Dämme verstärken, flüsterte die Stimme ihres Vaters irgendwo in der Dunkelheit, die sie umgab. Grab endlich! Los doch!
Laura hob den Kopf und sah sich um, obwohl sie wusste,dass er nicht da war. Nicht da sein konnte. Dabei fiel ihr Blick auf eine mannshohe Skulptur, die hinter der Staffelei stand. Wie in Trance stand sie auf und ging darauf zu.
Grab endlich, verdammt noch mal! Verteidige, was dein ist!
Aus der Nähe wirkte die Skulptur wie ein indianischer Totempfahl, um den sich körperlose Gliedmaßen rankten. Laura hätte nicht sagen können, was für ein Material ihre Schwester für das eigenartige Gebilde verwendet hatte, eine Art Kunststoff vielleicht. Ihre Finger berührten die Oberfläche, die trocken und fest war und keinesfalls so wirkte, als ob sie vor kurzem verändert oder bearbeitet worden sei. Und doch ... Ihre
Weitere Kostenlose Bücher