Blut Von Deinem Blute
Bradleys Zeiten, sondern ein »Brian Stanton«, möglicherweise der Sohn. Er überlegte kurz, dann nahm er zum zweiten Mal an diesem Tag ein Taxi und ließ sich in die knapp 30.000 Einwohner beherbergende Hauptstadt der Insel chauffieren. Er stieg am Liberation Square aus und überquerte die Broadstreet in Richtung Fußgängerzone. Eine kleine Seitengasse führte ihn nordwärts, bis er die Straße erreichte, deren Namen er sich auf einem kleinen Zettel notiert hatte: Hardford Gardens. Auf beiden Seiten der hübsch begrünten Straße schmiegte sich eine Reihe adretter Häuser aneinander, in denen hauptsächlich Banken und kleinere Handelsunternehmen untergebracht waren. Leon wusste, dass geschätzte 200 Milliarden Pfund an ausländischem Kapital auf der größten der Kanalinseln lagerten, doch anders als in Frankfurt mit seinen Bankenhochhäusern und gläsernen Finanztempeln kultivierte man hier gepflegtes britisches Understatement. Schlichte, blank geputzte Messingschilder und großzügig gestaltete Eingangsportale waren die einzigen Indikatoren für den opulenten Wohlstand, den die Insel in erster Linie ihrer liberalen Steuergesetzgebung und politischen Stabilität verdankte.
Leon sah sich gerade nach der richtigen Hausnummer um, als seine Schwester anrief.
»Hi«, beeilte er sich, das Gespräch entgegenzunehmen.
»Hi«, erwiderte Tonia. »Ich wollte nur mal hören, ob du meine E-Mail bekommen hast.«
»Ja, habe ich. Danke.«
Er hatte das Gefühl, dass sie drauf und dran war, ihn zu fragen, wie ihm ihre Bilder gefielen. Aber sie unterließ es. Stattdessen sagte sie: »Ich störe dich gerade bei irgendwas Wichtigem, oder?«
»Nein ... Ich meine, eigentlich nicht.«
»Was heißt eigentlich?«
»Ich habe nur gerade über ein Problem nachgedacht.«
»Aha.« Zögern. »Eins, das nur bedingt mit Josef Mengele und seinen Fluchthelfern zu tun hat, nehme ich an?« Charmant ausgedrückt!
»Stimmt«, gab er zu. Und nach einem Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: »Eine Freundin von mir steckt in Schwierigkeiten.«
»Eine Freundin?«
Wache Sensoren, ganz wie immer ...
»Eine Frau, die mir sehr viel bedeutet.«
»Und warum habe ich dann noch nie von ihr gehört?«
»Hast du nicht?«
»Quatsch nicht rum. Du redest immer nur über Kevin.« Sie seufzte wie eine Mutter, die es mit einem renitenten Kleinkind zu tun hat. »Und in was für Schwierigkeiten steckt deine Freundin?«
»Sie hat eine ziemlich harte Zeit hinter sich.«
»Inwiefern?«, fragte sie interessiert.
»Vor fünfzehn Jahren wurde ihr Vater ermordet.« Leon zögerte, dann setzte er beinahe trotzig hinzu: »Und ihre Stiefmutter auch.«
»Und deine Freundin wird nicht fertig damit?« Ihre Stimme klang, als halte sie diese Möglichkeit für ausgesprochen unwahrscheinlich.
»Doch«, sagte er schnell. »Das heißt, ich weiß nicht so recht.«
»Was soll das heißen, du weißt es nicht? Redet ihr nicht darüber?«
»Offiziell wusste ich bis vor ein paar Tagen nicht einmal, dass ihr Vater tot ist.«
»Puh«, stöhnte sie. »Das klingt aber nicht gerade nach einer gesunden Beziehung.«
Stimmt, dachte Leon bitter, während er sich gleichzeitig darüber wunderte, mit welcher Selbstverständlichkeit seine Schwester auf einmal das Ruder in die Hand nahm. Bislang hatten sie noch nicht so miteinander gesprochen, auf Augenhöhe. Aber was in diesem Leben hatte schon Bestand?
»Wir kennen uns jetzt seit ziemlich genau sechsundzwanzig Jahren«, stellte Tonia in diesem Augenblick ebenso treffend wie unsentimental fest. »Und als einschlägig vorgebildete Patientin einer psychiatrischen Klinik kann ich mit einiger Sicherheit konstatieren, dass du unter einem ausgeprägten Helfersyndrom leidest.«
»Findest du?«, fragte Leon erstaunt.
»Eindeutig«, entgegnete sie knapp. »Und ich an deiner Stelle würde mal darüber nachdenken, was in deinem Fall Ursache ist. Und was Wirkung.«
»Was meinst du damit?«
»Interessierst du dich für diese Frau, weil sie ist, wie sie ist? Oder bist du einfach der Meinung, dass sie Hilfe braucht?«
»Ich habe mich schon für sie interessiert, als ich noch nicht wusste, dass sie Hilfe braucht«, widersprach Leon. »Vielleicht hast du es instinktiv gespürt ...«
Er antwortete nicht, sondern starrte auf den Zettel inseiner Hand. Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, deren Folgen Sie als Außenstehender nicht absehen können, mahnte Cora Dubois.
»Na, wie auch immer«, sagte Tonia, die sehr wohl merkte, dass er nicht auf das
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