Blut Von Deinem Blute
»Und was ist mit dir? Hast du dich gut unterhalten?«
Laura war nicht sicher, ob sie diese Frage beantworten sollte. Sie war nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Frage war.
»Diese kleinen Scheißer machen eine gottverdammte Mutprobe daraus«, murmelte Mia, bevor sie mit einer entschlossenen Bewegung Gardine und Vorhänge zuzog. »Ich möchte bloß wissen, wo sie das vergammelte Gemüse immer auftreiben und diese ganze andere Scheiße, die sie hier andauernd aufs Grundstück kippen. Bestimmt fischen sie den ganzen Dreck aus den Mülltonnen drüben beim Restaurant.« Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »Lauter Scheißfraß, der den hochheiligen Gästen nicht gemundet hat. Und ich kann zusehen, wie ich mit dem ganzen Mist fertigwerde.«
»Soll ich nachsehen, ob sie was kaputt gemacht haben?«, fragte Laura, die mit einem Mal einfach nur weg wollte. Fort aus diesem düsteren Zimmer, raus aus dem Haus.
»Lass gut sein«, knurrte Mia, bevor sich ihre Miene von einer Sekunde zur anderen wieder aufhellte. »Hey, warumsetzen wir uns nicht ein bisschen rüber an den Kamin? Ich habe uns was zu trinken gemacht.«
»Ich ...« Laura räusperte sich. »Ich bin ziemlich müde.«
»Müde?« Mias Lächeln erstarb. »Aber es ist noch nicht mal halb zehn.«
»Wirklich?« Verwirrt sah Laura nach der Uhr über dem Esstisch. Irgendwie hatte sie das Gefühl, bereits eine halbe Ewigkeit in diesem Raum zu sein.
»Du kannst unmöglich müde sein um diese Uhrzeit.« Mias Ton war nachdrücklich. »Und der Flug dauert gerade mal zwei Stunden.«
»Na schön«, sagte Laura. »Noch eine Viertelstunde.«
Sie folgte ihrer Schwester zu den beiden wuchtigen Sesseln hinüber, die vor dem Kamin standen.
»Setz dich.« Mia nahm den schweren Keramikkrug, den sie in einem Moment, der Lauras Aufmerksamkeit entgangen war, auf dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel abgestellt hatte, und goss eine klare Flüssigkeit in zwei olivgrüne Plastikbecher, die aussahen, als gehörten sie zum Feldgeschirr eines Soldaten. »Auf ein Feuer sollten wir allerdings lieber verzichten. Es sei denn, du möchtest an Rauchvergiftung sterben. Den guten alten Erstickungstod.« Sie blickte nicht auf bei diesen Worten, sondern konzentrierte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Einschenken. Trotzdem hatte Laura den Eindruck, als würde sie lächeln. Auf ihrem T-Shirt trockneten derweil die Reste des Milchshakes. Vanille, nicht mehr ganz frisch.
Laura lehnte den Kopf gegen das Polster und starrte in den düsteren Kamin. Das Haus war schon immer sperrig und unbequem gewesen, schon damals, als sie selbst noch hier gelebt hatte. Aber jetzt war es ein Alptraum. Einedunkle, feuchte Höhle voller Geheimnisse und Staub. Und mittendrin ihre Schwester, die urplötzlich in Wut geriet und sich dann nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ganz so wie früher ...
»Hier!« Mit übertriebener Feierlichkeit reichte Mia ihr einen der Plastikbecher. Und erst jetzt fiel Laura auf, dass ihre Schwester sie nicht nach dem Grund ihrer Rückkehr gefragt hatte. Nicht bei ihrem Telefonat, als sie ihr Kommen angekündigt hatte. Und auch vorhin nicht. »Auf deine Rückkehr!«
Laura nahm den Becher. Was war das, was Mia ihr da gegeben hatte? Alkohol? Sie spürte, wie sich ihr Magen schmerzvoll zusammenzog, als sie den Becher vorsichtig an die Lippen hob. Warum konnte sie nicht wenigstens endlich aufhören zu schwitzen? Es musste doch irgendwie möglich sein, diese knappe Woche bis zum Schlachttag zu überstehen, ohne sich zu verraten! Und ihre Schwester war nun wirklich der letzte Mensch, mit dem sie ihr Geheimnis teilen wollte. Lauras Augen suchten das Porträt ihrer Mutter über dem Kamin. Hätte sie ihr zugehört? Hatte Louisa Bradley ihren Kindern jemals zugehört? Und ihnen Bratäpfel gemacht, tröstlich-verlogene Bratäpfel, die für ein paar wertvolle Augenblicke alle Schmerzen vertrieben? Hatte sie?
»Du kannst es ruhig trinken.«
»Wie bitte?«
Mia hatte sich in ihrem Sessel vorgebeugt und blickte sie mit schief gelegtem Kopf von der Seite an wie ein Vogel. »Es ist kein Gift drin.«
»Ich habe nicht angenommen, dass Gift drin ist.« Laura bemühte sich verzweifelt um einen lockeren, unverbindlichen Tonfall. Die Flüssigkeit in ihrem Becher roch nichtnach Alkohol. Genau genommen roch sie nach gar nichts. Hatte Mia ihr am Ende doch Wasser gegeben? Nur Wasser? Sie zögerte. Ich habe uns was zu trinken gemacht. Würde man so von Wasser sprechen? Vielleicht, dachte sie. Wenn man verrückt
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