Blut Von Deinem Blute
würde sie ja schließlich doch fragen müssen. Immerhin war sie nur aus diesem einzigen Grund hier: um die Fragen zu stellen, die sie schon vor fünfzehn Jahren hätte stellen müssen. »Sag mal«, begann sie, wobei sie die Reaktion ihrer Schwester genau beobachtete. »Was weißt du eigentlich noch von der Nacht, in der Vater gestorben ist?«
Für einen flüchtigen Augenblick hatte sie den Eindruck, als würde sich Mias Nacken versteifen. »Warum willst du das wissen?«
»Na ja, wir haben noch nie darüber gesprochen, und ich dachte, es wäre gut, wenn wir ...«
»Du solltest nicht davon anfangen«, fiel Mia ihr ins Wort. Und es klang ziemlich nachdrücklich. »Nicht nach all diesen Jahren.«
»Warum nicht?«
Sie lächelte. Ein sehr harmloses Lächeln dieses Mal. Aber was hieß das schon? »Weil es keinen Sinn hat.«
»Das sehe ich anders.«
»So, so ...« Ihre Schwester beugte sich wieder vor, und ihre Augen funkelten amüsiert, als sie in beinahe verschwörerischem Ton flüsterte: »Stell dir vor, die Leute hier denken tatsächlich, dass ich es war ...«
Sie lachten beide wie über einen köstlichen Scherz, aber zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr spürte Laura etwas wie eine konkrete Bedrohung.
11
»Ach, du Scheiße«, entfuhr es Kevin, nachdem er den Artikel zu Ende gelesen hatte.
»Das«, sagte Leon, »bringt es wohl auf den sprichwörtlichen Punkt.«
»Woher hast du das?«
»Jemand hat es mir vor ein paar Tagen ins Institut geschickt.«
Sein Freund runzelte die Stirn. »Was meinst du mit jemand?«
»Es war kein Brief dabei. Und auch kein Absender.«
»Aber ich nehme an, du hast die Geschichte trotzdem recherchiert?«
»Natürlich.« Leons Blick suchte den Holzschnitt, den ihm sein Doktorvater zum Examen geschenkt hatte und der seither über dem Tisch mit dem Kopierer hing. Es war eine Darstellung von Klio, der Muse der Geschichtsschreibung.
Der Historiker geht mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse an seinen Gegenstand heran, sammelt und sichtet sämtliche verfügbaren Quellen, überprüft und interpretiert diese nach den methodischen Regeln seines Fachs und stellt zuletzt die Ergebnisse seiner Arbeit öffentlich zur Diskussion.
»Und was ist bei diesen Recherchen herausgekommen?«, drängte Kevin, dem das Schweigen zu lange dauerte.
Leon griff in die oberste Schreibtischschublade und zog eine jener Mappen heraus, in denen er üblicherweise das Material für seine Forschungsaufträge sammelte. »Der Artikel ist authentisch«, erklärte er betont sachlich. »Ich habe auch noch eine Reihe von anderen Berichten gefunden, diesich mit dem Fall befassen. Die Sache hat damals ziemliches Aufsehen erregt.«
»Bei der Konstellation ist das ja wohl kaum verwunderlich.« Aus Kevins Augen blitzte nun unverkennbar fachliches Interesse.
»Kaum.«
»Weißt du, ob es eine Anklage gegeben hat?« Leon schüttelte den Kopf. »Nein, hat es nicht.«
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung, vielleicht hatten sie nicht genügend Beweise.« Er sah wieder zur Wand hinüber, wo Klio ihrer Diskussion mit unbeteiligter Miene lauschte. »Allerdings sind die Leute auf der Insel offenbar der Meinung, dass Lauras Schwester die Morde begangen hat.«
»Wieso? Weil sie im Haus war?«
»Nicht nur das.« Leon griff nach dem Kaffee, den er sich vor einer halben Ewigkeit eingeschenkt hatte. »Mia Bradley soll ihre Stiefmutter geradezu gehasst haben. Und sie hat durch den Tod ihres Vaters ein beträchtliches Vermögen geerbt.«
»Genau wie Laura«, versetzte Kevin mit der Treffsicherheit des erfahrenen Juristen.
»Richtig«, gab Leon zu. »Aber im Gegensatz zu Laura soll ihre Schwester kurz nach der Tat wichtige Spuren vernichtet haben. Angeblich unabsichtlich.«
Sein Freund sagte nichts, doch die Furchen in seiner Stirn sprachen Bände.
»Außerdem wohnt sie offenbar noch immer in dem Haus, in dem sich die Morde ereignet haben.«
»Das besagt gar nichts«, konterte Kevin. »Vielleicht ist ihr einfach nichts Besseres eingefallen.«
»Aber in einem Haus wohnen zu bleiben, in dem die eigenen Eltern mit einem Beil abgeschlachtet wurden ...«
»Nicht ihre Eltern«, korrigierte Kevin, der Jurist. »Ihr Vater und die böse Stiefmutter.«
»Macht das irgendeinen Unterschied?«
»Vielleicht ja, vielleicht nein«, entgegnete Kevin, indem er nach dem Artikel angelte. »Die Schwester war erst achtzehn damals, oder?«
Leon bejahte.
»Das ist verdammt jung.«
»Neunzehn ist auch nicht viel älter.«
Kevin zuckte die Achseln.
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