Blutbahn - Palzkis sechster Fall
außerdem Sonntag. Ich
denke, Sie sollten für heute Feierabend machen. Ich lasse mir kurz die Lage von
Frau Wagner erklären, dann gehen wir auch heim. Und morgen früh jagen wir gemeinsam
diesen S-Bahn Mörder. Ist das nicht ein guter Vorschlag?«
Ich stand auf und sagte, bevor er
es sich vielleicht anders überlegte: »Ein wirklich guter Gedanke. Sie als Vorgesetzter
wissen, was gut für Ihre Untergebenen ist.«
KPD strahlte.
»Kommst du, Gerhard? Die Kinderzimmer
warten.«
Ich stand bereits im Türrahmen,
da ging ich nochmals zurück zum Tisch und schnappte mir die zweite ungeöffnete Dose
mit den Köstlichkeiten. »Für unterwegs.«
Mein Kollege war in den letzten
Minuten etwas einsilbig geworden. Mit viel Einfühlungsvermögen war er letzten Endes
dennoch bereit, mir beim Umzug zu helfen.
»Wenn du mir hilfst, bringe ich
KPD dazu, im Keller der Dienststelle einen Raum für Krafttraining einzurichten.«
Seine glänzenden Augen zeigten mir den Erfolg meiner Bemühungen.
Was soll ich sagen? Tatsächlich
schafften wir es, die Kinderzimmer an diesem Abend nach Schifferstadt zu bringen.
Aufbauen konnten wir sie leider nicht mehr, zum einen schliefen die Kinder auf ihren
Luftmatratzen in den Zimmern, zum anderen war es inzwischen wesentlich nach Mitternacht
geworden. Gerhard und ich verzichteten ausnahmsweise auf unser Abschluss-Pils. Die
Kekse waren leer und mit meiner überschüssig produzierten Magensäure hätte man locker
ein paar Dutzend Autobatterien füllen können.
*
Am nächsten Morgen war Chaos angesagt. Nicht, weil ich todmüde war,
sondern weil der erste Schultag für Paul und Melanie in ihren neuen Schulen anstand.
Da wurden Schulranzen gesucht, irgendwelche Hefte, Pauls Wasserfarbenkasten war
verschwunden, und was weiß ich noch alles. Mit geringer Verspätung verließ Stefanie
das Haus, um Melanie ins Schulzentrum zu fahren. Ab morgen musste sie das Fahrrad
nehmen, wovon sie nicht sehr begeistert war.
Ich selbst war für das Wohlergehen
von Paul zuständig. Sein Schulweg war kürzer, die Grundschule Nord lag in Schifferstadts
Zentrum. Die Schule war in zwei Standorte, die nicht weit voneinander lagen, aufgeteilt.
In dem einen Gebäude wurden die Erst- und Zweitklässler unterrichtet, in dem anderen
die Dritt- und Viertklässler. Paul gehörte schon zu den Großen. Vor Kurzem hatte
ich mit seiner neuen Lehrerin eine Besprechung. Aus Raumnotgründen fand diese in
einem Klassensaal statt, in dem die ABC-Schützen unterrichtet wurden. Dieser Termin
war für mich prägend. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass meine speziellen Defizite
aus der Grundschulzeit stammen mussten. Diese halbe Stunde und die gewonnene Erkenntnis
ersetzten mir eine langwierige Psychoanalyse, was aber nicht an der Lehrerin lag,
sondern an der Ausstattung des Saals. An der Wand hingen Tafeln mit verschiedenen
Bildern. Auf einer war ein Haus abgebildet, darunter stand in Großbuchstaben ›Haus‹.
An anderen Stellen gab es eine Blume, einen Mond und vieles mehr. Doch ein Bild
haute mich um: Auf ihm war eindeutig ein zotteliges Kaninchen abgebildet, darunter
stand ›Hase‹. Mir wurde klar, dass bei solchen elementaren Fehlern bereits in der
ersten Klasse der Grundstein zu späterem Halbwissen gelegt wurde. Kein Wunder, dass
ich nicht einmal den Unterschied zwischen Nelke und Tulpe oder Eiche und Buche kannte.
Meine Lehrer waren schuld. Diese Feststellung war für mich wie eine Befreiung. Fast
war ich versucht, der Lehrerin weitere Bilder vorzuschlagen, zum Beispiel das einer
Kuh und der Bildunterschrift ›Salami‹. Damit könnte den Kindern klar gemacht werden,
dass nicht alle Kühe lila sind und sie noch zu etwas anderem als zur Milchproduktion
zu gebrauchen waren.
Ich fluchte, weil die gesamte Umgebung
der Grundschule in einem Verkehrschaos steckte. Warum waren die Eltern so unvernünftig,
ihre Kinder mit dem Auto in die Schule bringen zu müssen? Kein Wunder, dass Deutschlands
Schüler immer dicker und deren Eltern immer aggressiver wurden. Als Führerscheinneuling
war so mancher Jungerwachsener sicherlich noch der Meinung, dass der Erwerb der
Fahrlizenz gleichbedeutend mit einer alleinigen Nutzung sämtlicher Verkehrswege
sei. Doch wer schon eigene Kinder herumkutschierte, sollte die Welt etwas realistischer
sehen und nicht die Umgebung der Schule belagern, wenn ich ausnahmsweise einmal
selbst dorthin wollte. Aus dieser Not heraus parkte ich in der Feuerwehrzufahrt.
Schließlich konnte ich nicht gleich am
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