Blutberg - Kriminalroman
Natürlich hätte er mit Halldór sprechen müssen. Der hätte vielleicht etwas ausrichten können und die Sache vernünftig in Angriff genommen.
Valdimar stand auf, zog sich seinen Overall und die Arbeitsschuhe an und ging hinaus. Nach zwanzig Minuten hatte er das Gefühl, wieder klar denken zu können, und da stand er auf der Veranda vor Halldórs Unterkunft.
»Nicht zu fassen«, sagte er und wich einen Schritt zurück, als er sah, wo er sich befand. »Wie bin ich denn hierhergekommen?«
Er schüttelte den Kopf. Ich werde senil, dachte er, verdammt noch mal, bin ich denn wirklich schon ein närrischer alter Zausel? In Anbetracht der Umstände schien ihm das vielleicht gar keine so unangenehme Perspektive. Ein gelbes
Absperrband mit dem Polizeilogo war vor die Tür gespannt, an der ein Zettel befestigt worden war. Das Papier war zerfetzt und unleserlich geworden. Valdimar hatte jedoch eine ungefähre Vorstellung, was da gestanden haben musste. Nicht zu fassen, wie blöd diese Leute waren, dachte er, zu dieser Jahreszeit an diesem Ort so einen Wisch an die Tür zu hängen. Dann zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche, fand den passenden Schlüssel und steckte ihn, ohne zu zögern, ins Schloss.
Der Geruch von Halldór umgab ihn, sobald er über die Schwelle getreten war. Er schloss die Tür hinter sich und zog die Schuhe aus. Wie gewöhnlich. Er ging ins Schlafzimmer, nahm ein gerahmtes Bild vom Schreibtisch und legte sich auf das ungemachte Bett. Holte tief Luft. Da waren sie alle, er selbst, Halldór und dessen Sohn, Klein Valdi. Der Junge war im Herbst sieben geworden. Das Foto war im vergangenen Sommer entstanden, als Klein Valdi seinen Papa und seinen Opa oben in den Bergen besuchen durfte. Sie hatten zu dritt eine Angeltour unternommen. Valdimar zog die Nase hoch, war aber entschlossen, nicht sentimental zu werden. Sich aus dieser Scheiße herauszureißen. Etwas zu unternehmen.
Das hast du oft genug zu Birgir gesagt, du alter Depp, dachte er und setzte sich auf. Wie wär’s, das selbst auch einmal zu beherzigen? Er stellte das Bild wieder an seinen Platz und sah sich um. Wonach suchte er eigentlich? Valdimar war sich nicht sicher, aber er war entschlossen, es zu finden. Jetzt hätte ich Birgir hier gebraucht, um mir zu helfen, dachte er und versuchte ein weiteres Mal, ihn anzurufen. Es meldete sich aber immer nur die dämliche elektronische Tante.
»Verdammt, wie siehst du denn aus«, sagte Guðni und rülpste herzhaft, während er sich in seine Stiefel zwängte. »Anscheinend
höchste Zeit, dass du was zu futtern bekommst.« Árni saß ihm gegenüber auf der Bank im Eingangsbereich und zog sich vorsichtig die abgewetzten Turnschuhe aus.
»Mach ich«, murmelte er wehleidig, während er sich der Socken entledigte und Wärme und Leben in die Zehen zu massieren versuchte. »Was gibt’s zu essen?«
»Klippfisch«, sagte Guðni und strich sich über die Wampe. »Du kriegst bestimmt noch eine ordentliche Portion, wenn du hübsch darum bittest. Und dazu Roggenbrot.« Er hob das rechte Bein und lehnte sich nach links, ließ einen fahren und lachte. »Das pumpert wenigstens anständig.« Er knöpfte sich den Wintermantel bis zum Hals zu. » See you, amigo .«
»Wo gehst du hin?«
Guðni zuckte die Achseln. »Zum Büro. Stefán will mich sprechen.«
»Weswegen?«
»Keine Ahnung. Wer weiß, vielleicht will er mich losschicken, um ein paar von diesen Nutten zu testen und abzuchecken, ob die was taugen.« Er blinzelte Árni zu, klappte den Mantelkragen hoch und verschwand hinaus ins Schneetreiben. Klippfisch, dachte Árni, ich hab keine Lust auf Klippfisch.
Er massierte weiter seine Füße und zog eine schmerzliche Grimasse. Die Zehen waren also trotz allem noch nicht völlig abgestorben.
Katrín stützte sich mit der linken Hand auf die Motorhaube des Pickups und lehnte sich an das Seitenfenster. Ricardo ließ die Scheibe herunter, er sah immer noch kleinlaut und zerknirscht aus.
»Sind Sie sicher, dass Sie fahrtüchtig sind?«, fragte Katrín. Er nickte. »Sonst können Sie auch gern mit mir kommen.« Er schüttelte den Kopf.
»Aber Sie versprechen mir, zur Krankenstation zu fahren und sich behandeln zu lassen.« Sie drohte ihm wie eine Lehrerin mit dem Zeigefinger. »Ich fahre hinter Ihnen her, verstanden?« Er antwortete nicht, sondern starrte mit der Miene eines geprügelten Hundes auf den Boden. Sie nickte ihm entschlossen zu, versetzte der Motorhaube einen leichten Klaps und ging zu ihrem
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