Blutberg - Kriminalroman
Jeep.
Temperament haben sie, diese Italiener, dachte sie, das ist keine Übertreibung. Sie ließ den Jeep an und fuhr gemächlich hinter Ricardo her. Ihr gingen die Ereignisse der letzten Minuten durch den Kopf, und unwillkürlich massierte sie ab und zu ihren Hals. Es war relativ einfach gewesen, der Mann war ein absoluter Dilettant, was körperliche Auseinandersetzungen betraf. Er war direkt von vorn mit ausgebreiteten Armen auf sie zugekommen und hatte breitbeinig und wie angewachsen dagestanden, als er zupackte. Ihre Reaktion war einwandfrei gewesen, glaubte sie, daran gab es nichts auszusetzen. Im gleichen Augenblick, als sich Ricardos Finger um ihren Hals schlossen, ließ sie die geballten Fäuste mit aller Kraft auf seine Ellbogen niedergehen und stieß ihm gleichzeitig das linke Knie in den Sack, gefolgt von einem kräftigen Rechtsausleger in den Bauch. Da er völlig außer Gefecht gesetzt war, hatte sie ihm problemlos Handschellen anlegen können. Nein, wahrscheinlich konnte niemand sich über diese Abfertigung beklagen, höchstens sie selber. Sie ging das Ganze mehrmals durch, kam aber immer wieder zu demselben Ergebnis: Dazu hätte es gar nicht kommen müssen. Ich hätte ausweichen sollen, er hätte gar nicht erst mit meinem Hals in Berührung kommen dürfen. Ich habe nicht richtig reagiert.
»Quatsch«, sagte sie laut zu sich selbst. »Jetzt red dir bloß nicht so was ein.« Sie schob diese Gedanken von sich weg. Die Schuld lag nicht bei ihr, sondern eindeutig bei Ricardo. Er hatte sie ja schließlich angegriffen, und sie hatte vollkommen
richtig reagiert. Schluss aus, Punkt. Natürlich hätte sie ihn an Ort und Stelle festnehmen und ihn in Handschellen ins Camp bringen und Anzeige gegen ihn erstatten können. Aber sie hatte sich entschlossen, das nicht zu tun, weil sie der Meinung war, dass eine drohende Anzeige besser als Druckmittel zu benutzen war, und das Versprechen, keinen Gebrauch davon zu machen, als Köder. Im Bedarfsfall konnte sie ja immer noch ihre Meinung ändern. Im Gegenzug hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, so etwas nicht noch einmal zu versuchen. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte und sich nicht mehr zu ihren Füßen vor Schmerzen wand, hatte sie ihm die Handschellen abgenommen. Seine erste Tat war, sich die Schmerzenstränen von den Wangen zu wischen, und als Nächstes begann er sein bestes Stück zu massieren.
»Ich würde das lieber lassen«, hatte sie ihm empfohlen, »oder zumindest nur sehr vorsichtig, das macht es nämlich nur noch schlimmer.« Er nickte, massierte aber trotzdem weiter. Er konnte wahrscheinlich nicht anders, dachte sie, eine instinktive Reaktion … Sie hoffte, keine dauerhaften Schäden angerichtet zu haben, und falls doch, dass dann das Kind zumindest sein eigenes war. Ricardos Worten zufolge schien er ganz ähnliche Gedanken gehabt zu haben, nachdem er eine erste Entschuldigung hervorgestammelt hatte.
»Das ist mein Kind«, stieß er mühsam hervor. »Susanna hat Halldór seit Monaten nicht mehr getroffen.«
»Es ist also richtig, dass Halldór und Ihre Frau etwas miteinander hatten?«
Ricardo nickte. » Si . Aber das war vorbei. Und zwar schon lange.«
»Sie sind sich da sicher?«
Ricardos sämtliche Gesichtsmuskeln strafften sich, und einen Augenblick lang glaubte Katrín, er wolle wieder auf sie
losgehen, doch als er ihre Reaktion sah, winkte er wie wild ab, um Missverständnisse zu vermeiden.
» Si . Ich bin mir sicher, sehr sicher.«
»Wieso?«
»Wieso was?«
»Wieso sind Sie sich so sicher? Wie können Sie das wissen? Entschuldigen Sie, aber ich muss da nachhaken …«
Er nickte. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihn bemitleidet.
»Das verstehe ich«, sagte er, »das verstehe ich. Ist es in Ordnung, wenn ich … Darf ich mich setzen?«
Sie nahmen wieder auf der Stahlstrebe Platz. »Halldór war kein guter Mensch«, sagte er. »Halldór war, wie sagt man das? Wenn einer vorgibt, so oder so zu sein, in Wirklichkeit aber ganz anders ist?«
»Falsch?«, schlug Katrín vor.
»Genau«, sagte Ricardo. »Falsch. Halldór war falsch. Susanna - meine Frau - ist sensibel. Ihr geht es hier in dieser Dunkelheit und Kälte nicht gut. Ich hätte sie nie darum bitten sollen, mit mir zu kommen.« Er verstummte. Katrín beschloss, ihm das Schweigen zu gestatten, und sie saßen im Halbdunkel des Stollens und hörten, wie es ringsum von den Wänden tropfte und wie sich zu ihren Füßen ein Bach bildete.
»Sie wollte arbeiten«, sagte er
Weitere Kostenlose Bücher