Blutberg - Kriminalroman
das Nekrophobie. Er fügte gern hinzu, dass ihm das aber wesentlich sympathischer sei als Nekrophilie.
Árni musste unwillkürlich lächeln, als er an Geir dachte, seinen ehemaligen Schwiegervater in spe, der ihm nicht wenige, meist ungebetene und vollkommen nutzlose Ratschläge gegeben hatte, was Frauen und Liebschaften betraf. Das Lächeln verging ihm aber gleich wieder, als ihm Geirs Tochter einfiel, Anna, Árnis Exehefrau in spe. Er beschloss, sich stattdessen auf Ásta zu konzentrieren, um auf angenehmere Gedanken zu kommen. Das klappte so gut, dass er bereits vergessen hatte, wonach er fragen sollte, als er dem ersten Menschen, der ihm über den Weg lief, auf die Schulter klopfte.
»Was für ein Scheißwetter«, sagte er stattdessen, »ist das hier immer so?«
Der Mann sah aus dem Fenster und zuckte mit den Achseln. »Zu dieser Jahreszeit - eigentlich ja.«
Birgir Valdimarsson hatte eine nicht abgeschlossene Ausbildung als Mechaniker. Er war achtundzwanzig Jahre alt und auf seinem mausgrauen Scheitel zeigten sich einige Stellen mit kreisrundem Haarausfall; das grobknochige Gesicht mit der dreimal gebrochenen und dreimal verheilten Nase zog einige Frauen an, stieß aber die meisten ab, ebenso wie das Maori-Tattoo am Hals. Er machte sich Sorgen um seinen Vater. Bislang war das umgekehrt gewesen. Niemand, außer vielleicht Birgirs Mutter, hatte einen genauen Überblick darüber, wie oft Valdimar seinen Sohn nach durchzechten Nächten aus den Arrestzellen der Polizei in Reykjavík, Selfoss, Hvolsvöllur, Hella und sogar in Höfn oder Borgarnes herausgeholt
hatte. Und nicht einmal sie wusste, wieviel Geld dabei draufgegangen war, Strafanzeigen aus sämtlichen Landesteilen wegen Körperverletzung abzublocken. Zweimal hatte Birgir sich in größere Schwierigkeiten gebracht, als mit Geld aus der Welt zu schaffen waren, und hatte dafür in geschlossener Gesellschaft unter noch schlimmeren Rambos büßen müssen, als er selbst einer war. Vor acht Monaten hatte Valdimar seinem Sohn ein Ultimatum gestellt: Entweder er geht mit ihm nach Kárahnjúkar und nimmt Vernunft an, oder seine Eltern werden ihn gemeinsam wegen Einbruchs, Körperverletzung und grober Diebstahlsdelikte anzeigen, was natürlich ein sonnenklarer Verstoß gegen die Bewährungsauflagen gewesen wäre und mindestens ein weiteres Jahr im Knast bedeutet hätte. Birgir hatte in dieser Nacht seinem Vater in die Augen geblickt und ganz genau gewusst, dass der Alte zwar den Mund sehr voll nahm, aber zu seinem Wort stehen würde. Er wusste immer noch nicht, was ihm ermöglicht hatte, sich aus der Scheiße zu ziehen und sich selbst in den Arsch zu treten. Aber er hatte es geschafft und seitdem keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt und sieben Tage in der Woche härter gearbeitet als je zuvor in seinem Leben. Das war mehr, als man über die Erfolge seiner zahlreichen Entzugstherapien in der Suchtklinik Vogar sagen konnte, denn von dort aus hatte er stets unverzüglich Kurs auf die nächste Kneipe genommen.
Und jetzt saß er hier und musste mit ansehen, dass sein alter Vater noch vor Mittag sturzbetrunken war, nichts als dummes Geschwafel von sich gab und immer wieder mit der Stirn gegen die vereiste Fensterscheibe schlug. Kaum zu glauben, dass dies derselbe Mann war, der zwei Tage zuvor den Gesteinsmassen des Bergsturzes mit übermenschlicher Disziplin und Gefasstheit zu Leibe gerückt war, sogar nachdem sie seinen Bruder Halldór gefunden hatten. Birgir hatte keine Ahnung,
was er tun sollte. Er hatte seine Mutter angerufen, aber die wusste auch keinen Rat, denn in den nunmehr fünfunddreißig Jahren ihres Zusammenlebens war so etwas noch nie passiert. Birgir hatte das Gefühl, dass sie ihm gar nicht richtig glaubte, als er ihr sagte, wie es um seinen Vater stand. Er konnte ihr das nicht verdenken, schließlich tat er sich ja selbst auch schwer damit, es zu glauben, obwohl es sich vor seinen eigenen Augen abspielte. Außerdem stand sie noch unter Schock wegen Halldór, des älteren - und besser geratenen - Sohns, der im Gegensatz zu ihm die Erwartungen seiner Eltern voll und ganz erfüllt hatte.
»Vater«, begann er zum siebten Mal an diesem Morgen, kam aber auch jetzt genauso wenig weiter wie bei den früheren Versuchen. Er fand keine Worte, wusste nicht, was er als Nächstes sagen sollte. Er wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihm seinen tätowierten, muskulösen Arm um die Schultern gelegt, genau wie es sein Vater so oft getan hatte, wenn es ihm
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