Blutbraut
seinem Sitz vorrutschte. Näher kam. Ich sah weiter in die Dunkelheit. »Ich bin nicht wie er. Ich werde nie so sein. Ich … ich hoffe es zumindest. Ich meine … bei mir reicht es gerade mal dazu, eine Kerze anzuzünden. Wenn überhaupt. Und Joaquín … das ganze Konsortium hat Angst vor ihm – die Männer, die eigentlich seine Berater sein sollen.« Cris lachte gepresst. »Wahrscheinlich gibt es sogar in der gesamten Hermandad keinen, der es wagt, sich offen gegen ihn zu stellen.« Die Hermandad … die Bruderschaft jener Hexer, deren
Vorfahren vor Hunderten von Jahren einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten. Die Gesamtheit all derer, die waren wie er. Bei Tag zumindest äußerlich normale Menschen, aber bei Nacht … Vampire. – Camorra, Cosa Nostra, Mafia; wie auch immer sie hießen: Verglichen mit der Hermandad waren sie … harmlos. Tante María hatte mir so viel erzählt. Weil sie wollte, dass ich wusste, wer mich jagte. Und Joaquín de Alvaro war einer von denen, die an ihrer Spitze standen. Zusammen mit Männern, von denen jeder einzelne Jahrzehnte älter war als er; mächtiger hätte sein müssen. Und es nicht war. Cris’ Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich werde nicht zulassen, dass Joaquín irgendetwas tut, was du nicht willst. Ich meine, ich … habe ihm zwar nichts entgegenzusetzen, aber … ich schaffe es. Irgendwie, Lucinda. Ich verspreche es!«
Ich hielt den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. ›Ich verspreche es.‹ Ich hätte ihm so gern geglaubt. Aber wie konnte ich das noch? Er brachte mich zu ihm. Dem Monster, vor dem ich mein ganzes Leben davongelaufen war. Er war sein Bruder. ›Ich verspreche es. ‹ – Oh Gott, Cris.
»Ich werde dich beschützen. Irgendwie. Niemand darf dir wehtun. Auch Joaquín nicht«, wiederholte er nach einigen weiteren Sekunden noch einmal und stand auf. »Ich verspreche es dir.« Ich rührte mich nicht. Schwieg. Irgendwann kehrte er auf seinen Platz auf der anderen Seite der Kabine zurück. Jenseits der Scheibe blitzten die Sterne auf dem Nachthimmel. Ich saß einfach nur da. ›Ich verspreche es dir.‹ Ebenso einfach zu sagen wie ›Verzeih mir‹. Aber unmöglich zu halten. ›… das ganze Konsortium hat Angst vor ihm.‹ Die mächtigsten Hexer der Familie. Die seit Hunderten von Jahren immer den Männern der de-Alvaro-Linie Rechenschaft schuldig gewesen waren. Die jetzt ihm
Rechenschaft schuldeten. Obwohl er jünger war als sie. Und Cris …? Ob er seinem Bruder etwas antun würde, wenn der es wagte, sich gegen ihn und vor mich zu stellen? Wahrscheinlich hatte er nach den Gesetzen der Hermandad sogar das Recht dazu. Immerhin war ich ja seine Blutbraut. Und wenn … wenn ich es einfach hinnahm? Es geschehen ließ? Allein bei dem Gedanken war der Krampf in meiner Brust mit einem Schlag da. Nein! Nein, das … ich konnte nicht. Niemals. Tante María hatte geschrien und gebettelt. Ihr Blut war überall gewesen. Er hatte immer wieder zugebissen. Ich zwang mich, weiterzuatmen. Ein und aus. Nur ein und aus. Er brauchte mich, wenn er nicht zum Nosferatu werden wollte. Er konnte mich nicht töten. Er brauchte mich lebend. Es gab noch andere wie mich. Auch wenn ich die Einzige war, die für ihn ›passte‹. Sie ertrugen es doch auch … Meine Lungen zogen sich noch ein Stück weiter zusammen. Nein! Nein, ich … Nein! Der Schmerz, als er damals die Zähne auch in meinen Hals geschlagen hatte … Atme, Lucinda! Ich umklammerte die Armlehne, so fest ich konnte. Aber vielleicht schaffte ich es, so zu tun, als hätte ich mich mit meinem Schicksal abgefunden? Vielleicht ließ er mich dann noch ein oder zwei Tage in Ruhe? Gab mir Zeit, mich an ihn zu gewöhnen? Dann hatte ich vielleicht eine Chance, doch noch einmal zu entkommen. Wenn ich ihn täuschen konnte … nur ein oder zwei Tage … Irgendeine Gelegenheit würde sich ergeben. Bestimmt. Vielleicht würde Cris mir ja helfen. Solange er nur nicht sofort über mich herfiel … Wenn ich ihn täuschen konnte … nur ein oder zwei Tage …
Als ich aufsah, wurde mir klar, warum ich es nie schaffen würde, ihm etwas vorzumachen: Rafael. Er stand im Gang, die Hand locker auf die Lehne des Sessels neben ihm gelegt. Ich
hatte nicht gehört, dass er zurückgekommen war. Reglos schaute er mich an. Vielleicht würde ich jeden anderen täuschen können, aber ihn nicht. Und er würde nicht zulassen, dass ich ihn täuschte. Aber musste ich es nicht wenigstens versuchen? Seine Augen waren im Licht der Kabine
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