Blutbraut
gegeben, damit ich nicht schrie. Ob ich wollte oder nicht.
»Luz …« Er ging vor mir in die Hocke, streckte die Hand nach mir aus. Mit einem hohen Laut machte ich mich noch kleiner. Seine Hand sank herab. Mein Atem flog, als wäre ich wie eine Besessene gerannt. Ich schluckte. Schluckte. Schluckte. Wieder und wieder. Versuchte, mein Keuchen unter Kontrolle zu bekommen, die Panik. Er war nicht der andere. Wir waren nicht in irgendeinem Keller. Da waren keine nackten Betonwände. Es war nicht Nacht. Und Tante María hatte mich nicht belogen. Sie war meine Tante. Sie musste es gewesen sein. Das alles konnte keine Lüge gewesen sein. Das war nicht möglich. Ich hatte meine Strümpfe ja auch für den Weihnachtsmann aufgehängt und er hatte mir etwas hineingetan. Manchmal.
»Du lügst!« Ich hob den Kopf, biss mir auf die Lippe, sah ihn an. »Du lügst!« Hatte ich beim ersten Mal nur ein Flüstern zustande gebracht, kamen die Worte jetzt viel zu laut.
Einen Moment sagte er nichts, musterte mich einfach nur. Doch dann nickte er. »Wenn du das glauben musst, um damit klarzukommen …« Sein Tonfall sagte etwas anderes. ›Du weißt, dass es wahr ist.‹
Da war wieder dieser Schrei in mir. ›Ja!‹ Ich schüttelte den Kopf, presste die Hände gegen meine Schläfen. »Geh weg!«, verlangte ich heftig.
Ohne den Blick von mir zu nehmen, richtete er sich auf. »Wie du willst. Ich bin ein paar Meter den Fluss hinauf. Du wirst mich die ganze Zeit sehen können. Ruf, wenn etwas ist.«
Wieder schüttelte ich den Kopf. Er nickte nur, trat rückwärts von mir zurück, drehte sich erst um, als er den Rand des Felsens erreichte, sprang hinunter. Der Kies knirschte unter ihm.
Ich saß einfach nur da. Versuchte herauszufinden, was Wahrheit war und was Lüge. Kramte in meinem Gedächtnis nach Situationen, nach Gesten, Bemerkungen meiner Tante, die mir einen Hinweis gegeben hätten. Irgendeinen. Nichts. Nichts, was mir eindeutig gesagt hätte, dass ich nur eine ›Lebensversicherung‹ für sie gewesen war. Aber auch nichts, was mir gesagt hätte, dass sie tatsächlich meine Tante gewesen war. Hatte sie mich jemals in den Arm genommen? Richtig. Wie man jemanden in den Arm nahm, den man zumindest ein kleines bisschen gernhat? Nein. Ich zog die Beine enger an den Leib. – Musste sie mich denn gernhaben, wenn sie nur den letzten Willen ihres Bruders erfüllte? Konnte man das so einfach von ihr erwarten? Ein Mädchen gernzuhaben, das sie nicht kannte? Auch nur ein ganz klein wenig? Der Stoff meiner Hose klebte unangenehm kalt auf meiner Haut. Sie hatte mir niemals irgendetwas über meine Eltern erzählt. Sosehr ich auch gefragt und gebettelt hatte. Niemals. Und weshalb hatte sie zum Beispiel nicht gewusst, dass mein Blut für ihn nutzlos war, wenn ich es ihm nicht freiwillig gab? Oder wenn sie es gewusst hatte, warum hatte sie es mir nicht gesagt? Dass sie es nicht getan hatte, konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass sie es nicht gewusst hatte. Wenn sie
nur die Schwester meines Vaters war, konnte sie es denn wissen? Hatte Joaquín nicht gesagt, die Moreiras hätten nicht nur Blutbräute ›hervorgebracht‹, sondern auch Hexer? Wenn meine Mutter eine Moreira war, hätte sie es nicht auch wissen müssen? Weshalb kannten mich alle unter ›Moreira‹, dem Nachnamen meiner Mutter, und nicht dem meines Vaters? Hatte sie ihn behalten? Weshalb hätte sie das tun sollen? Ich barg den Kopf in den Armen, einmal mehr mit dem Gefühl, mich im Kreis zu drehen.
Aber da war noch etwas: Warum konnte ich mich nicht an die Zeit vor der mit Tante María erinnern? Warum hatte ich keine Erinnerung daran, dass ich auf Santa Reyada gelebt hatte; mit Cris und ihm? Warum konnte ich mich nicht erinnern?
Als mir bewusst wurde, dass ich mich vor – und zurückwiegte, zwang ich mich dazu, damit aufzuhören.
Über mir schrie ein Raubvogel sein »Kijaa. Kijaa«. Ich sah auf, suchte den Himmel nach ihm ab, beobachtete, wie er seine Kreise dort oben zog, immer höher stieg, zur Sonne hinauf, bis ich ihn vor ihrem grellen Licht nicht mehr erkennen konnte, die Augen schließen musste. Als ich sie wieder öffnete, suchte ich unwillkürlich nach ihm. Da! Wie er gesagt hatte. Nur ein kurzes Stück weiter den Fluss entlang. Er saß auf einem Felsen, die Füße im Wasser. Wann hatte er die Schuhe ausgezogen? Halb von mir abgewandt, dass ich nur sein Profil sehen konnte. Sah dem Wasser zu, wie es vor ihm dahingurgelte, und ließ dabei anscheinend kleine Steine von
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