Blutbraut
meinem Bein, knapp oberhalb des Knöchels, lenkte meinen Blick nach unten. Beinah erwartete ich eine Kette zu sehen, die mich an das Bettgestell fesselte. Da war nichts. Das Ziehen blieb, verstärkte sich, als ich mich vorbeugte und das Hosenbein in die Höhe zerrte. Darunter klebte ein großes Pflaster. Eine Sekunde zögerte ich, doch dann riss ich es mit einem Ruck ab. Und zischte.
»Dieser miese Bastard!«
Nur ein paar Inch oberhalb meines Knöchels prangte ein Tattoo. Nicht größer als meine Handfläche. Eigentlich sogar ein Stückchen kleiner. In genau den Farben, die ich ihm in seinem Laboratorium noch so ausführlich beschrieben hatte. Das Zentrum: ein perfekter Kreis. Eingefasst von einem Rankenmuster, das sich noch ein kleines Stück nach oben und unten erstreckte. Und darin: Siegel. Ineinanderverschlungen, verwoben mit irgendwelchen anderen Symbolen. Ein Pentagramm wie ein Schatten darunter, nur zu erkennen, wenn man genau hinsah; und selbst dann kaum. Die Linien schienen sich zu bewegen, zu verschwimmen, sich immer wieder neu zu formen. Die Farben leuchteten; sahen aus, als hätte er mir winzige Edelsteine auf die Haut gesetzt und nicht bunte Linien in sie hineingestochen. Gestochen! Dieser selbstgerechte Scheißkerl!
Na warte! Mir ein Tattoo zu verpassen, als könnte er mich einfach als sein Eigentum kennzeichnen. Ich wollte die Fingernägel hineinschlagen und es wegkratzen; irgendetwas hielt mich davon ab. Die Zähne zusammengebissen schob ich mich vom
Bett herunter. Wo war er? Er würde mich ja kaum allein gelassen haben. Mach dein Testament, de Alvaro!
Im ersten Moment noch leicht unsicher auf den Beinen, stürmte ich aus dem Schlafzimmer auf einen sonnendurchfluteten Gang hinaus, riss jede Tür auf, die mir unterwegs begegnete: ein Bad, ein zweites Schlafzimmer, kein Joaquín de Alvaro. Eine Treppe hinunter ins Erdgeschoss, vorbei an einer offenen Küche, durch eine kleine Halle. »De Alvaro, du … ahrgh! Wo bist du?« Keine Antwort. Nur aus dem Augenwinkel nahm ich etwas Farbiges wahr, als ich daran vorbeilief. In ein Wohnzimmer. Mit geschlossenen Läden, die Streifen aus Licht auf alles malten, wie im Schlafzimmer direkt darüber. »De Alvaro?!« Wie zuvor: nichts als Stille. Mitten in einem der Lichtstreifen lag ein Handy. Auf irgendwelchen Papieren. »So nicht!« Ich schnappte es mir, zog das Ladekabel ab, riss den darauf klebenden Zettel mit einer vierstelligen Nummer herunter … Und zögerte, als mir klar wurde, dass ich seine Handynummer gar nicht kannte. Oder die Nummer von Santa Reyada. – Aber die von Cris! Ich tippte sie ein. »Na warte.«
Es klingelte. Einmal. Zweimal …
»De Alvaro.«
»Gib mir deinen Bruder, Cris!«, verlangte ich, ohne ihm überhaupt meinen Namen zu nennen.
»Lucinda? Was …? Wo bist …« Geräusche. Als würde jemand Cris das Handy wegnehmen.
Ich sah auf die Papiere auf dem Tisch. Runzelte die Stirn. Das oberste Blatt war von Hand beschrieben. Joaquíns Schrift. Ich hob es auf.
»Lucinda?« Das war Rafael.
Mi luz,
wenn Du das hier liest, bin ich aus Deinem Leben verschwunden. Endgültig. Wie versprochen.
Was vor Dir auf dem Tisch liegt, ist die zweite Hälfte Deines Geburtstagsgeschenkes
Mein Blick ging zu dem, was da noch lag. Ein Schlüsselbund. Eine Geldklammer mit einem dicken Bündel Geldscheine. Eine … Sozialversicherungskarte? Ausgestellt auf eine gewisse ›Luca Marini‹. Daneben ein Ausweis, auf dem ebenfalls der Name ›Luca Marini‹ stand, die genau ein Jahr und einen Tag älter war als ich und von dem ich mir selbst entgegensah. Benommen starrte ich darauf. Und auf das schwarze Lackkästchen, das in der Nacht am Pool in unzählige Splitter zerbrochen war und das jetzt als ›Briefbeschwerer‹ für die Papiere darunter diente. Irgendjemand hatte in mühsamer Kleinarbeit Splitter für Splitter wieder zusammengesetzt. Nicht irgendjemand. Joaquín. Und offenbar nicht mit Magie, mit Klebstoff.
»Lucinda?« Noch immer Rafael. »Lucinda, bist du das? Wo steckst du? Wo ist Joaquín? …«
»Ich ruf später noch mal an.«
»Lucinda! Nein, du …« Ich drückte ihn weg, sank auf die Armlehne des Sofas direkt neben mir. Meine Hände zitterten, als ich das Lackkästchen behutsam beiseitestellte, die Papiere vom Tisch nahm. Geburtsurkunde, Ausweis, Sozialversicherungskarte; der Kaufvertrag für eine Eigentumswohnung in einer Apartmentanlage, die Kopie eines Eintrags im Grundbuch zu ebenjenem Apartment; der Kaufvertrag für einen BMW … auf
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