Blutbraut
waren, die ich in mein neues Leben hatte mitnehmen
wollen. Daneben die Tür ins Bad. Das Bett mit einem Rahmen aus Edelstahl; modern und verspielt zugleich. Ein schmaler, hoher Spiegel in der Ecke. Ein Sessel. Mr Brumbles saß darin. Eine Frisierkommode mit Hocker, auf der das wenige stand, was ich an Make-up jemals besessen hatte. Darüber ein zweiter Spiegel. Ich stieß die Glastüren und Läden auf. Eine Dachterrasse. Die gleichen Fliesen wie unten. Eine Palme daneben spendete Schatten. Nur hundert, höchstens zweihundert Meter weiter: das Meer. Ich konnte die Wellen hören, das Geschrei der Möwen. Über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg waren die beiden riesigen roten Stahlpfeiler der … Golden Gate Bridge zu sehen … Großer Gott. San Francisco. Ich war gar nicht mehr in L.A. – Er hatte mich nach San Francisco gebracht. Plötzlich waren meine Knie weich. San Francisco. Ich wandte mich von der Tür ab, tappte wieder nach unten. Diesmal blieb ich vor den Bildern stehen. San Francisco. Ich war in San Francisco. Das blaue hing an der Wand im Wohnzimmer. Die anderen standen hier im Korridor, der eigentlich eine kleine Halle war. Alle. Jedes einzelne. Sogar die Mappe mit den Zeichnungen von mir war hier. San Francisco …
Als ich mich nach ihr bückte, sickerte in meinen Verstand, was Rafael am Telefon gesagt hatte: ›Lucinda, bist du das? Wo steckst du? Wo ist Joaquín? …‹ Ich erstarrte. Wo ist Joaquín? … Aber … das …? Ich rannte ins Wohnzimmer, riss das Handy vom Tisch, drückte auf Wahlwiederholung. Mit jedem Klingeln wurde das Zittern in meinem Inneren stärker. Unruhig ging ich zwischen Sofa und Tisch auf und ab.
»Montoya.« Diesmal hatte ich Rafael direkt dran.
»Was sollte das heißen: Wo ist Joaquín?« Ich machte mir auch diesmal nicht die Mühe, meinen Namen zu sagen.
»Lucinda? Verdammt noch mal, wage es nicht noch einmal, einfach aufzulegen, hörst du?«, herrschte er mich an.
»Was sollte das heißen: › Wo ist Joaquín?‹«, wiederholte ich in einem ganz ähnlichen Tonfall.
Stille am anderen Ende.
»Rafael! Was sollte das heißen: Wo …?«
»Seit er mit dir vor drei Tagen von hier los ist, ist er verschwunden. «
Wie zuvor sank ich auf das Sofa. Drei Tage? Aber … Mein Blick ging zu meinem Bein. Ich zog die Hose ein Stück in die Höhe, betrachtete das Tattoo. Natürlich. Wie hatte ich nur auf die Idee kommen können, dass nur ein paar Stunden vergangen sein könnten, seit er mir das Tuch aufs Gesicht gedrückt hatte. Ich verzog das Gesicht. Nein, genau genommen war es ja schon so gut wie vollkommen verheilt. Was bedeutete, dass er mir etwas von seinem Blut eingeflößt haben musste …
»Lucinda? Lucinda, wenn du wieder auflegst …«
Ich rieb mir die Stirn. Ich war mir nicht sicher, aber … Doch. Ich erinnerte mich daran, dass ich irgendwann auf dem Bett oben zu mir gekommen war. Und Joaquín mir ein Glas mit einer leicht salzigen Flüssigkeit an den Mund gesetzt hatte, noch ehe ich richtig wieder bei mir war, und mich gezwungen hatte, zu trinken. Und irgendwann danach noch einmal. Dazwischen … Ich hatte gewimmert und protestiert, weil es wehgetan hatte. Leise und beruhigend hatte er auf mich eingesprochen. Mich ein paarmal tröstend im Arm gewiegt … Ich drückte die Finger fester gegen meine Stirn. Er hatte irgendetwas beim Chinesen bestellt … und einmal Pizza. Der Käse hatte elend lange Fäden zwischen meinem Mund und dem Pizzastück gezogen … Die ganze Zeit hatte ich immer wieder genau das getan, was er
mir gesagt hatte. Ich hatte gegessen, wenn er es mir gesagt hatte, getrunken, und ich war ins Bad gegangen, wenn er es mir sagte. Wie eine Puppe …
Ich ließ die Hand sinken. Das hatte er nicht getan?! Das … Nein! Hatte er mir nicht nur von seinem Blut zu trinken gegeben, damit das Tattoo schneller heilte, sondern auch, damit er mich kontrollieren konnte?! Warum sonst hätte er mir zweimal davon einflößen sollen? Beim ersten Mal, noch bevor er überhaupt begonnen hatte, mir das Tattoo zu stechen. Für eine Sekunde schloss ich die Augen, biss die Zähne zusammen. Joaquín de Alvaro, du elender Mistkerl. Gnade dir Gott, wenn ich dich in die Finger bekomme!
»Lucinda? Sag was! Bist du noch dran?«
Abermals rieb ich mir die Stirn. Drei Tage … Herr im Himmel. – Und: verschwunden?
»Lucinda?«
»Was heißt das, ›verschwunden‹?«
Wieder herrschte eine Sekunde Schweigen. Es klang irgendwie … irritiert. Dann: »Es hat ihn seitdem niemand
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