Blutbraut
einmal versehentlich irgendwelche entsetzlich zugerichteten Leichen zu sehen.
Ich hockte neben Joaquíns Bildern auf dem Fußboden meiner kleinen ›Halle‹ und umklammerte den Armreif, den er mir geschenkt hatte, als das Handy wieder klingelte. Im ersten Moment hätte ich es über dem Geräuschpegel von CNN kaum gehört und selbst dann brauchte ich eine weitere Sekunde, bis ich den Ton zuordnen konnte. Ich stolperte auf die Füße, rannte ins Wohnzimmer und warf mich quer über die Rückenlehne des Sofas, während ich zugleich beinah panisch nach ihm angelte. Vollkommen atemlos ging ich ran. »Rafael? Habt ihr …?«
»Ich bin es, Cris.«
»Cris?« Woher hatte er diese Nummer? Von Rafael? »Was ist los?« Mit einem irgendwie mulmigen Gefühl rutschte ich endgültig über die Sofalehne nach vorne auf die Kissen.
Schweigen.
»Cris, was ist? Wisst ihr irgendetwas von Joaquín?«
Cris’ Schweigen dauerte an, eine schiere Ewigkeit, bis er schließlich doch antwortete. »Ja und nein. – Wo bist du, Lucinda? «
Was? Ich biss die Zähne zusammen. Ich hatte den Deal mit Rafael und nicht mit Cris. Aber auch wenn das hier Cris war: Diese Frage würde ich selbst ihm nicht beantworten.
»Was soll das heißen, ja und nein ? Was ist los, Cris?«
Abermals ein sehr langes Zögern, als überlegte er, was er mir sagen sollte. Schließlich hörte ich ein Seufzen. »Die Entführer haben sich gemeldet.«
Schlagartig verstärkte sich das Zittern in meinem Inneren. »Das heißt, er lebt? Geht es ihm gut?«
»Anscheinend. Es gibt eine Lösegeldforderung. – Aber sie wollen, dass du die eigentliche Übergabe machst.«
Mein Herz verpasste einen Schlag. »Ich? Aber wieso …?
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wissen sie etwas über die Hermandad oder gehören selbst dazu und haben Angst, dass ich ihnen mit meiner Magie«, er stieß einen bitteren Laut aus, »irgendwie eine Falle stellen könnte, und sehen dich nicht als Gefahr, weil du ja keine magischen Kräfte hast.«
»Was sagt Rafael dazu?«
»Rafael vertritt den Standpunkt, wenn wir zahlen, sehen wir Joaquín nicht wieder. Zumindest nicht lebend. Er weiß nicht, dass ich dich anrufe. – Lucinda, er ist bereit, das Risiko einzugehen, und weigert sich zu bezahlen.« Stille, dann: »Ich werde das ohne sein Wissen durchziehen. Das Geld habe ich. Aber du musst die Übergabe machen. – Bitte hilf mir, Lucinda!«
Ich ließ das Handy in meinen Schoß sinken. Ich sollte …? Oh mein Gott. ›Aber du musst die Übergabe machen. – Bitte hilf mir, Lucinda!‹ Es sagte sich so einfach. Wie ›Es tut mir leid‹. – Aber war ich es ihm nicht in gewisser Weise schuldig? Nicht Cris, Joaquín.
»Lucinda …?«
Er hatte mir das hier gegeben … Okay. Ich würde es nicht behalten können. Schon nach Rafaels Anruf war mir das irgendwie klar gewesen. Ich würde das Geld und die Papiere nehmen und noch einmal weiterziehen. Mit ein bisschen Glück zum letzten Mal. – Ich war es Joaquín schuldig.
»Lucinda …?«
Ich schloss die Augen, hob das Handy wieder ans Ohr, nickte. »In Ordnung. Ich mach’s. – Wann soll die Übergabe sein?«
»In drei Stunden. – Danke, Lucinda.« Cris’ Aufatmen war durch die Verbindung deutlich zu hören. »Ich bin schon in Los Angeles, ich hole dich ab …«
»Nein.« Wenn ich sowieso fortgehen würde, warum zum
Teufel, war ich dann nicht bereit, ihn hierherkommen zu lassen? Mal abgesehen davon, dass ich gar nicht wusste, wo ›hier‹ war? Außer irgendwo in San Francisco. »Nein, wir … treffen uns am Santa Monica Pier. In …« Wie lange dauerte ein Flug von San Fransisco nach Los Angeles? Wie viel Zeit brauchte ich von hier zum Flughafen? Und vom Flughafen in L.A. zum Santa Monica Pier? Konnte ich überhaupt so kurzfristig noch einen Platz auf einer der nächsten Maschinen bekommen?
»Lucinda? Alles in Ord…«
»Ich weiß nicht, wie lange ich brauche.«
Schweigen. Als würde er abzuschätzen versuchen, was das für die Forderung der Entführer bedeutete. »Okay. Verstehe.« Seine Stimme klang, als hätte er die Zähne zusammengebissen. »Dann komm her, so schnell du kannst.«
»Und wenn … werden die Entführer …«
»Das lass meine Sorge sein. Komm einfach, so schnell du kannst.«
»Okay.« Ich rieb mir die Stirn. »Warte am Tor vom Pier auf mich. Wenn etwas ist, hast du ja diese Nummer.« Nicht, dass ich irgendetwas tun könnte, wenn ich irgendwo in der Luft zwischen San Francisco und Los Angeles war. »Ich beeile mich.«
»In
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