Bluteis: Thriller (German Edition)
einzutrichtern, machten sie innerhalb von zwei Wochen zu ganz passablen Skifahrern. Und Tourengehen war ohnehin einfach und reine Konditionssache. Die würde unterwegs kommen, hatte Kisi ihnen gesagt. Und dass sie eine lange Reise vor sich hätten. Wohin es ging, verriet sie nicht. Aber das machte nichts. Alle sechs wären Kisi durch jeden tosenden Schneesturm gefolgt oder mitten in die Glut eines brodelnden Vulkans. Sie waren alle auf Kisi konditioniert wie die Gänseküken von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeld.
Die Kombination aus Elektrokrampftherapie, transkranieller Magnetstimulation, Tiefenhypnose, Thiaminmangel und Oxytocin-Überdosierung hatte genau so funktioniert, wie Kisis Leute dies an den Universitäten der Welt in den Jahren zuvor erprobt hatten. Die bestehenden Erinnerungen, das Gedächtnis, die erlernten Verhaltensmuster und Einstellungen der Probanden wurden blockiert, und neues Wissen, neue Einstellungen und neues Fühlen konnte innerhalb kürzester Zeit in das Gehirn eingeschrieben werden. Die sechs Geiseln im Gletscher hatten gar keine Ahnung, welch unglaubliche Leistung ihre Hirne in den letzten vier Wochen vollbracht hatten. Sie hatten ungeheure Datenmengen aufgesogen, nachts, wenn sie in Hypnose schliefen. Die Wiederholung des Wissens in den Lernsitzungen am Tage hatte mehr der Überprüfung durch Kisi gedient, als dass die Entführten dort noch wesentlich mehr gelernt hatten. Sie waren in den Fachgebieten der Bevölkerungsforschung, der Erziehungswissenschaft, der Psychologie, der Biolandwirtschaft, des Mikrokreditwesens auf dem jeweils letzten Forschungsstand und hätten darüber stundenlange Referate halten können. Das Wissen war verknüpft mit den Einstellungen, die Kisi als die richtigen erachtete. Ihr Dogma besagte, dass Erziehung das einzige Mittel der Lebensverbesserung in den armen Ländern der Erde war und dass darum jedes Kind einen ordentlichen Schulabschluss machen musste. Dass Kleinbauerntum die Versorgung nicht nur der Hungernden in den Drittweltländern, sondern bei moderner Vernetzung und Logistik auch zur Versorgung der Industriestaaten beitragen würde – wenn die Produkte dieser Kleinbauern nur fair gehandelt wurden. Dafür mussten Lebensmittelspekulationen an den Börsen der Welt verboten werden.
Das alles erschien den sechs Schülern so glasklar, dass es keinen Zweifel gab: Sie mussten diese Wahrheiten in die Tat umsetzen. Denn sie hatten es in der Hand. Sie waren Wirtschaftsführer, die entsprechende Unternehmungen lenkten. Nur deswegen waren sie zu diesem Gletscher-Workshop gekommen, zu dem Kisi sie eingeladen hatte. Nach einem Monat des Lernens, der Diskussion und des Pläneschmiedens war es so weit, sie hatten sich ein gemeinsames Ziel gegeben. Und wenn sie dieses Ziel erreichten, würde sich in der Welt vieles zum Besseren wenden.
Sie waren Berufene. Sie würden sich an einen Ort begeben, von wo aus sie die Welt wissen lassen konnten, wie in Zukunft gegen die Probleme vorgegangen werden würde. »In die Höhle des Löwen«, hatte Kisi gesagt. »Und wie Jäger in der Savanne werden wir uns mit List und Umsicht an den Löwen heranschleichen. Wir werden zu Fuß dorthin gehen, wo wir die größte Wirkung erzielen können.«
Die sechs standen in ihren Skitourenausrüstungen am Ausgang der Höhle. Lawinenpiepser unter den Jacken, Schaufeln und Sonden in den Rucksäcken. Jeder mit einer Thermoskanne Tee und einer Menge hochenergetischer Knusperriegel im Gepäck. Dazu kamen Biwak- und Polarschlafsäcke. Sie wussten nicht, wo sie die nächsten Tage und Wochen übernachten würden. Kisi würde vorneweg gehen und ihr Assistent Abdul den Schluss bilden. Warum die beiden die Maschinenpistolen umhängen hatten, wusste keiner der sechs Gäste. Und es dachte auch keiner darüber nach.
Sie würde diese Höhle vermissen, dachte sich Natalija, das Gegluckse des Wassers um sie herum, das magische Licht an den hellen Tagen, die absolute Ruhe in den Nächten. Wie gut, dass sie sich zu diesem Seminar angemeldet hatte. Sie wusste gar nicht mehr, wann das gewesen war. Doch es war wohl eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. Denn sie konnte diese Welt verändern. Konnte die Erde zu einem besseren Ort machen. Das war es doch, wozu man geboren wurde. Die Zeit im Eis hatte ihr Leben verändert. Und sicher auch das von Raghav, Khalid, Frans, Xi und Dick.
Im Schein der Stirnlampen traten sie hinaus auf den Gletscher. Natalija kamen die Umrisse der hohen Berge, die sie
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