Bluteis: Thriller (German Edition)
andere aus ihrer Gruppe behandelt wurden. Sie kannten die Therapie nur von sich selbst – und sie freuten sich alle darauf. Denn die Elektroschocks hatten in ihrem Bewusstsein neue Türen geöffnet, durch die das Wissen nur so hereingeströmt war. Sie waren beinahe süchtig nach der Hochspannung, die ihre Gehirnregionen, die für Erinnerungen und Lernen zuständig waren, während der Anwendungen durchfloss.
Wie immer nahm Kisi die Steuerungsknöpfe am mattsilbrigen Gerät zwischen ihre schlanken Finger und erhöhte nach und nach die Stromstärke und die Zeit, in denen die Elektronen flossen. Natalija beobachtete sie ganz genau, denn sie hatte vor, dass sie Kisis geheimes Wissen einmal selbst anwenden und an die nächste Generation weitergeben wollte. An die Generation, die in ihrem Bauch heranwuchs.
Doch Kisi ging bei Frans nicht so behutsam vor, wie sie das bei Natalija tat. So kam es Natalija jedenfalls vor. Sie begann von Anfang an mit mittlerer Stärke und ließ den Stromstoß über zwanzig Sekunden durch das Gehirn des Südafrikaners jagen. Dann machte sie eine Minute Pause und drehte den Regler fast bis an den Anschlag auf. Natalija war sich sicher, dass sie selbst noch nie eine solch hohe Spannung verabreicht bekommen hatte. Kisi kippte den Schalter, und es hob Frans de Jongs Körper nach oben. Sein Kopf zuckte hin und her, und sein ganzer Körper zappelte. Seine angewachsenen Ohrläppchen glühten.
Natalija glaubte ein sadistisches Grinsen auf Kisis Gesicht zu sehen, so als würde es ihr große Befriedigung bereiten, den Mann zu quälen. Sie konnte nicht wissen, dass Kisi nicht bei allen ihren Schützlingen eine Neuprogrammierung des Gehirns wollte. Bei Frans de Jong wollte sie das Gehirn erlöschen lassen, Schritt für Schritt. Seinen Sexualtrieb hatte sie – und das war ihr das Wichtigste – bereits in den ersten Wochen im Gletscher ein für alle Mal ausradiert. Jetzt würde sie ihm nach und nach die Sinne rauben. Sie hatte sich zunächst für seinen Geruchssinn entschieden.
Ein wenig vorsichtig legte sich Natalija auf die Stelle neben Frans, als Kisi mit dessen Behandlung fertig war. Er war sofort eingeschlafen und schnarchte wie ein alter Ehemann.
»Keine Angst«, beruhigte Kisi ihre beste Schülerin. »Bei dir brauche ich nicht so viel.«
Abdul brachte routiniert die Elektroden an Natalijas Kopf an, und schon bald spürte sie den Strom durch ihr Gehirn strömen. Währenddessen verabreichte ihr Abdul die Spritze.
Nach der Behandlung schlief auch Natalija. Als sie erwachte, konnte sie sich nur noch mit Mühe an die Gletscherhöhle erinnern. Aber welche Rolle sollte auch eine Gletscherhöhle spielen? Es war wichtig, dass sie hier unter ihresgleichen, in ihrer Gruppe der Berufenen war. Alles, was zählte, war das Morgen. Das Morgen einer besseren Welt.
Bis sie diese bessere Welt errichten konnten, so hatte es ihnen Kisi beigebracht, hatten sie die Prüfung dieser Tour hinter sich zu bringen. Doch gerade als sie sich an den Schnee gewöhnt hatten, wurde dieser zur Mangelware. Das Calancatal, das sie am nächsten Tag nach Überschreitung des Fil de Dragiva erreichten, war vollkommen aper. Sie befestigten ihre Ski an den Rucksäcken und stellten die Einstellung der Tourenskistiefel auf »Gehen«. In den im April bereits grünen Bergwäldern hätte die Truppe ein ungewohntes Bild geboten, daher ließ Kisi ausschließlich nachts marschieren.
Nach Buseno erfolgte wieder ein Aufstieg auf Brettern und Fellen zwischen Piz de Molineri und Pizzo di Claro hindurch. Auf der hinteren Seite des Bergrückens lag das Valle Leventina, wo die Gefahr der Entdeckung groß war. Denn dieses Tal war nicht nur dichter bewohnt als die beinahe ausgestorbenen Hochtäler, es führen auch eine Autobahn und eine Schnellstraße hindurch. Als sie die Cima dell’Uomo bestiegen, um wieder Schnee unter die Ski zu bekommen, war diese Gefahr zunächst gebannt, doch es ging bereits am nächsten Tag wieder hinab ins Tal des Flüsschens Verzasca, wo der Schnee bereits vergessen schien. Hier in dem wilden steilen Tal schlich die Karawane bei Nacht zwischen den Dörfern Lavertezzo und Vogorno hindurch, um die Madom da Sgióf, eine schroffe Pyramide, in Angriff zu nehmen. In der menschenleeren Gegend des Tessin waren Skitourengeher eine Seltenheit, und Kisi ließ weiterhin nur nachts gehen, was das Unternehmen alles andere als ungefährlicher machte.
Das Valle di Vergeletto überschritten sie jedoch wieder bei Tag über die im Norden des
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