Bluteis: Thriller (German Edition)
Tals gelegene Kette, die Pizzo Cramalina, Rosso di Ribia, Pizzo di Porcaresc und Pioda di Crana bildeten. Die gelungene Überschreitung feierten sie mit einem weiteren Stadelaufenthalt in der Nähe von Crevoladossola. Dort spielte sich das Gleiche ab wie drei Tage zuvor. Kisi quälte Frans de Jong mit den Elektroschocks und verwöhnte die anderen geradezu damit.
Pizzo Albiona, Pizzo Giezza, Camoscellahorn, Pizzo Straciugo hießen die nächsten Überschreitungen, die sie mit einem Biwak am Zwischbergenpass beendeten. Für die meisten Hochtourengeher, die im Frühjahr diese Gegend aufsuchten, begannen die Routen in Saas Fee, das sie am nächsten Morgen erreichten. Von dort ging es in einer guten Woche auf den Mont Blanc: Die klassische Haute Route hatte hier ihren Ausgangspunkt.
Nach dem Tessiner Flachland wurde es endlich wieder hochalpin. Zudem befanden sie sich nun wieder in Italien, was Kisi sichtlich entspannte. Auch wenn die vielen anderen Skitourengeher, die die Haute Route unternahmen, ihnen entgegengingen, denn der Klassiker führte von Chamonix nach Zermatt, so waren doch genug Skialpinisten auf die einzelnen Gipfel unterwegs, dass die Achtergruppe nicht weiters auffiel.
Sie wechselten wieder in den Tagesbetrieb. Es wäre auch lebensgefährlich gewesen, bei Nacht über die Gletscher zu gehen. Sie trauten sich sogar in die üblichen Bergsteigerunterkünfte entlang der Route. Biwaks im Freien hätten in dieser hochfrequentierten Gegend auch Argwohn erregt. Kisi hatte also in weiser Voraussicht von unterwegs per Satellitentelefon Nachtlager in den Hütten und Talpensionen gebucht.
Donnerstag, 4. April, 8 Uhr 50
Flughafen Innsbruck
Natürlich war es lächerlich, die 215 Kilometer Luftlinie zwischen Zürich und Innsbruck mit dem Firmenjet zurückzulegen. Der Flug dauerte inklusive Start und Landung gerade einmal fünfzehn Minuten. Und Sonndoblers Chauffeur musste die gepanzerte Limousine sowieso über St. Gallen und Landeck in die Hauptstadt Tirols fahren, damit er Sonndobler und seine Sekretärin Annemarie Käppli dort abholen und in das knapp fünfzig Kilometer entfernte Schloss Osterbach chauffieren konnte. Doch ein Bankenvorsteher wie Albert Sonndobler wollte zum wichtigsten Osterbacher-Treffen seit langer Zeit – wenn es nicht das wichtigste seit Gründung der Organisation war – eindrucksvoll per Businessjet anreisen.
Seine Gulfstream parkte nun auf dem Vorfeld des internationalen Flughafens der Tiroler Landeshauptstadt in Innsbruck-Kranebitten neben denen der großen amerikanischen Unternehmen und Banken, für die sich die Benutzung der Jets wenigstens gelohnt hatte, sowie neben einigen Regierungsfliegern der politischen Führerinnen und Führer der Industrienationen. Nur die meisten deutschen Wirtschaftsbosse waren ihrem Bescheidenheitszwang gehorchend mit Linienmaschinen zum Innsbrucker oder auch dem Münchner Flughafen gelangt, um von dort mit ihren – ebenfalls vorher dort geparkten Limousinen – ins Osterbach-Tal zu fahren. Freilich hatten es die Vertreter der großen in München ansässigen Weltkonzerne am einfachsten, am Tagungsort zu erscheinen; sie waren direkt über die Autobahn A95 nach Süden gezischt, um das versteckt gelegene Tal zu erreichen.
Das Osterbach-Tal befand sich auf deutscher Seite der Grenze, an der es schon lange keine Grenzstationen mehr gab. Und so konnten die vielen ausländischen Gäste gar nicht unterscheiden, ob sie nun in Tirol oder in Bayern landeten oder aus ihren Autos ausstiegen. Es war ihnen auch vollkommen egal. Sie waren an der Geburtsstätte der Osterbacher-Bewegung angekommen, und das zählte. Hier im Tal, das nur durch eine Privatstraße erschlossen und daher perfekt abzuschirmen war, wehte der Osterbacher-Geist, mit dem sich Anfang der 1950er Jahre die wichtigsten Wirtschafts- und Politikführer zusammengeschlossen hatten.
Seit diesem ersten Meeting, das der Organisation ihren Namen gegeben hatte, hatte kein Jahrestreffen mehr an diesem Ort stattgefunden. Das Hotel, das sich ein Schriftsteller und Philosoph 1914 in das Wetterstein-Gebirge hatte bauen lassen, war seit seiner Gründung ein Ort des geistigen und politischen Austauschs gewesen. In diesem Sinn waren die Osterbacher 1952 von Diplomaten und Vordenkern eines Miteinanders der Nationen gegründet worden. Damals war keineswegs beabsichtigt gewesen, dass eines Tages handfeste Wirtschaftsinteressen die Tagungen bestimmen würden. Doch spätestens seit der Ölkrise in den 1970er Jahren war auf den
Weitere Kostenlose Bücher