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Bluteis: Thriller (German Edition)

Bluteis: Thriller (German Edition)

Titel: Bluteis: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
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Augenmaß und mit Einfühlungsvermögen in die Volksseele zu betreiben. Das unschöne Wort des Raubtierkapitalismus macht nicht nur in meinem Land die Runde. Diese Stimmung ist gefährlich für uns alle. Ich wünsche mir, dass Sie alle bei Ihren Gesprächen an ein mögliches Zurückschwingen des Pendels denken. Dieses muss und kann verhindert werden, und wir werden weiterhin gemeinsam mit Ihnen prosperieren. In diesem Sinne wünsche ich uns allen gute Gespräche und einen regen Austausch.«
    Mit keiner Silbe war die Politikerin auf den Tod von Lex Kayser oder dessen Nachfolge eingegangen. War das ein Anzeichen dafür, dass sie auf Distanz zu den Osterbachern ging? Sie hatte an die Anwesenden ja durchaus kritische Worte gerichtet. In diplomatischen Zirkeln hätte man ihre kurze Ansprache sogar als ausgewachsene Standpauke verstanden. Oder war das nur professioneller Abstand, den sie wahren musste, falls doch einmal etwas von dem, was hier besprochen und entschieden wurde, nach außen drang? Dann könnte sie ihre Rede vorzeigen und sagen: »Ich habe besänftigend auf die Wirtschaftsführer dieser Welt eingewirkt.« Die Geschäfte zugunsten ihrer schnell wachsenden Volkswirtschaft würde sie ohnehin in den kleineren Runden einfädeln, die für Sonntag auf dem Plan standen.
    Nach der Safrancremesuppe stand der Mann auf, der als bisheriger Stellvertreter und nun als designierter Nachfolger von Lex Kayser als Chef der größten amerikanischen Versicherungsgesellschaft so etwas wie sein Erbe war. Bisher war der Mann, der irischstämmige Amerikaner Ian O’Flaherty, bei den Osterbachern noch nicht groß in Erscheinung getreten. Er war auf den meisten der Jahrestreffen dabei gewesen, seit er vor fünf Jahren in die Spitze des Unternehmens aufgerückt war. Stellte er eine Gefahr für Sonndobler da?
    O’Flaherty betrat die Bühne mit gut einstudierter Trauermine. Er sagte nur wenige Sätze: »Wir sind in diesem Jahr auch deshalb an diesem Ort zusammengekommen, um uns an die Historie der Osterbacher zu erinnern. Um uns vor Augen zu führen, dass wir uns zur Aufgabe gemacht haben, die Welt als eine bessere zu hinterlassen. Dass wir über unser Vorgehen in den nächsten Jahren hier im schönen Osterbacher-Tal diskutieren, war eine Idee des großen Lex Kayser. Wie Sie alle wissen, hat er uns vor kurzem viel zu früh verlassen. Ich bitte Sie daher, sich für eine Gedenkminute an Lex Kayser von Ihren Plätzen zu erheben.«
    Ian O’Flaherty senkte den Kopf, wartete, nachdem alle standen, die obligatorischen zehn Sekunden, richtete dann den Blick wieder auf die Menge und sagte: »Danke.« Damit war sein Auftritt beendet. Er trat von der Bühne und setzte sich wieder.
    Sonndobler atmete durch. Der Amerikaner hatte sich nicht selbst zum neuen Osterbacher-Chef ausgerufen.
    Nach Fisch und Fichtennadel-Sorbet, das nicht allen Gästen in gleichem Maße zu munden schien – viele der aufwendigst verzierten und geeisten Schüsselchen wurden unangetastet zurück in die Küche gebracht –, war es an den drei höchsten Finanzwächtern der Weltreligionen, der Konferenz den Segen ihrer jeweiligen Glaubensrichtungen zu geben. »Wir sehen im wirtschaftlichen Wachstum die Worte Gottes in die Tat umgesetzt: ›Seid fruchtbar und mehret euch!‹«, war der zentrale Satz in der Rede des erst kürzlich neu inthronisierten Chefs der Vatikanbank IOR, einem deutschen Adligen, der anschließend von den Vertretern des Jewish World Congress und dann vom obersten Muslim in die Dogmen ihrer Weltanschauungen übertragen wurde. Zunächst aber bat der römisch-katholische Oberbanker um eine weitere Schweigeminute für die Opfer des jüngsten Terroranschlags in der Schweiz und erinnerte daran, dass die Behörden bei der Aufklärung des Verbrechens immer noch keinen entscheidenden Schritt weitergekommen waren. »Lasst uns die nicht vergessen, die ihren Tod gefunden haben auf der Bühne unseres Lebens«, sagte er ein wenig kryptisch.
    In der Küche nahm man erleichtert zur Kenntnis, dass die drei nicht allzu lange die im Ablauf vorgesehenen fünf Minuten überzogen, denn man wollte das Lamm rosa gebraten auf den Tisch bringen.
    Nach der Hauptspeise und nachdem sich die ersten Raucher nach draußen geflüchtet und dort ihre nagende Sucht befriedigt hatten, betrat zum ersten Mal ein Angehöriger des Harten Kerns der Osterbacher die Bühne. Es wurde still im Saal, denn jedermann dachte, man wolle noch vor dem Dessert den neuen Vorsitzenden des Lenkungsausschusses und

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