Bluteis: Thriller (German Edition)
aus dem Münchner Umland. Man sah ihm an, dass er noch kurz vor dem Empfang eine harte Trainingseinheit im Gym des Hotels hinter sich gebracht hatte. Der ehemalige Fallschirmjäger brauchte seine tägliche Ration Endorphine wie ein Junkie seinen Schuss. Zeugen berichteten hinter vorgehaltener Hand, dass er sich trotz seines Alters – auch er war Anfang sechzig – eine Waage neben die Tretmühle im Fitnesscenter stellen ließ. Er stellte das Sportgerät auf steilste Steigung oder höchstes Tempo, um dann so lange zu laufen, bis er drei Kilo Wasser verloren hatte. Danach stieg er mit einem Urwaldschrei vom Gerät und machte fünfzig Liegestütze. Keiner der Manager oder Politiker war annähernd so fit wie der Major der Reserve.
Sie alle defilierten an Sonndobler vorbei und gaben ihm artig die Hand. Der hatte die entscheidenden Männer – und die wichtigste Frau – der wichtigsten Volkswirtschaft des Kontinents in den letzten Tagen gesprochen, und er war sich ihrer unvoreingenommenen Unterstützung sicher. Gleiches galt für die Wirtschaftsführer aus Frankreich, die nach der deutschen Delegation ankamen. Nur die Engländer hatten sich in den Gesprächen wie immer vornehm zurückgehalten. Letztlich würden die aber das tun, was ihnen die Amerikaner vorschrieben.
Die Amerikaner kamen als Letzte an der Champagnerpyramide an, die das fleißige Personal des Hotels Schloss Osterbach in der Mitte des Raumes aufgebaut hatte. Wie gewohnt trugen die meisten von ihnen in Altväter Art zweireihige Smokings mit Weste darunter. Die Herren aus New York, die Sonndobler an dem Wochenende vor zwei Wochen besucht hatte, schüttelten seine Hand überschwenglich. Manche umarmten ihren Kandidaten sogar freundschaftlich.
Endlich betrat der amerikanische Vizepräsident den Raum. Er war erst am Morgen in Bayern angekommen und hatte eine Entourage aus Botschaftern seines Landes und die Chefs der großen amerikanischen TV-Netzwerke und Zeitungen im Schlepp. Ihn zu sprechen war Sonndobler den ganzen Tag nicht gelungen, aber er war sicher, dass der zweitmächtigste Mann der Welt in die Pläne der New Yorker eingeweiht war, ihn am heutigen Abend zum Chef der Osterbach-Organisation zu küren.
Nach der Abordnung der Amerikaner erschien die Delegation des Vatikans. Die Herren der Vatikanbank und der für die Finanzen des Heiligen Stuhls zuständige Kardinal im Staatssekretärrang mischten sich zusammen mit den Chefs des World Jewish Congress und der Organization of Islamic Cooperation unter die illustre Gesellschaft. Jeder wusste, dass sie die Männer mit dem geringsten offiziellen und mit dem größten inoffiziellen Einfluss waren. Der indische Stahl-Magnat, der aus welchen Gründen auch immer beim Anziehen zu lange gebraucht hatte, drückte sich im Rücken einer Servicekraft, die auf einem Silbertablett Valser Wasser für die Antialkoholiker reichte, in den Raum.
Als alle angestoßen und am Champagner genippt hatten, öffneten sich die Flügeltüren zum Konzertsaal. Selbstverständlich überließen die Herren der deutschen Kanzlerin den Vortritt.
Gleichzeitig mit dem Aufschwingen der Türen spielte das Kammerorchester der weltberühmten Münchner Philharmoniker unter der Leitung des Ersten Konzertmeisters auf. Die siebzehn handverlesenen Musiker würden an diesem Abend jenes Repertoire zum Besten geben, das sie im Sommer in den bayerischen Bergen im Rahmen ihrer Veranstaltung »Auf da Oim« zusammengestellt hatten. Sie begannen mit einer Kammerversion von Richard Strauss’ Alpensymphonie. Ein passenderes Stück konnte es kaum geben. Denn einerseits handelte das Werk vom Auf- und Abstieg des Menschen, der aus dem Nichts kommt und ins Nichts geht, während er dazwischen den Gipfel des Lebens mühsam erklimmt, wie das auf handgeschöpftem Gmunder Papier gedruckte Programm zu erläutern wusste, das auf den Tischen auslag. Andererseits war der Komponist im nahen München geboren und im noch näher gelegenen Garmisch-Partenkirchen gestorben, war also ein Kind dieser Region. Dass er als Präsident der Reichsmusikkammer während des Nationalsozialismus zu den Untaten des Regimes geschwiegen hatte, stand nicht im Programm. Es hätte auch niemanden im Saal interessiert, geschweige denn gestört. Wer von ihnen hätte zu einer solchen Zeit schon seine Karriere zugunsten des Heldentums aufgegeben? Oder zu irgendeiner anderen Zeit?
Man setzte sich. Aufgrund der geringen Anzahl an Damen ging das schneller als sonst, denn bis auf wenige Ausnahmen musste
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