Bluteis: Thriller (German Edition)
Sonndobler dem Mann zu seiner Rechten zu. Es handelte sich um den amerikanischen Automobilmanager, der in Davos Lex Kayser die aufdringlichen Fragen gestellt hatte.
»Dass Sie ihn nicht kennen«, zischelte der Angesprochene zurück. »Alexandre wurde von Lex Kayser in seinem Vermächtnis zum Vollstrecker seines Letzten Willens bestimmt. Er entstammt einer alten Familie …«
»… von zyprischen Reedern, ja, jetzt erinnere ich mich«, schauspielerte Sonndobler. »Natürlich, Lex hat ihn mir sogar einmal vorgestellt.«
»Auf Wunsch von Kayser hat er bei uns in den Staaten in praktisch allen wichtigen Unternehmen ein Praktikum gemacht. Auch bei uns in Detroit. Aber selbstverständlich auch in New York bei den dortigen Communities … Sie wissen schon.«
Sonndobler wusste. Und ihm schwante nichts Gutes.
Natürlich ließ sich der junge Mann alle Zeit der Welt, um seinen Auftritt wirken zu lassen. Zunächst referierte er eine geschlagene Viertelstunde über die Geschichte der Osterbacher seit ihrer Gründung an eben »diesem wunderbaren Ort, gelegen in einem magischen Gebirgstal voll von galaktischer Energie und irdischer Kraft«, wie er sich ausdrückte.
D’Annecy wusste seinen Vortrag geschickt in die Länge zu ziehen. Die Anspannung des Publikums steigerte sich ins Unerträgliche. Sonndobler schielte immer wieder zur großen Tür des Saals. Fluchtgedanken hatten von ihm Besitz ergriffen. Was wäre, wenn der Mann gleich verkünden würde, dass Sonndobler und seine gesamte Bank ein jämmerlicher Haufen erpressbarer Feiglinge waren? Dass alles nur inszeniert gewesen war, um Sonndobler zu testen? Dass er den Test nicht bestanden hatte? Wobei … Kayser hatte ja sein Schweigen als positives Zeichen gewertet. War das nun anders? Hatten die Herren, die hinter den Kulissen aktiv waren, doch keinen Gefallen an ihm gefunden? Sonndoblers Wäsche war längst durchgeschwitzt. Der hohe Kragen scheuerte am Nacken. Er versuchte sich zu entspannen, indem er an einen Tag beim Hochseefischen dachte – ganz allein, ohne Freunde, ohne Familie, ohne Kollegen, ohne Annemarie. Vielleicht würde es ihm auf diese Weise gelingen, einen entspannten Eindruck zu machen, so dass man ihm den mörderischen Stress nicht ansah, unter dem er stand.
Mittlerweile hatte der Redner einen Lobgesang auf den verstorbenen Lex Kayser angestimmt und richtete zum Schluss das Wort direkt an Sonndobler. »Wie schrecklich muss es für Sie gewesen sein, lieber Herr Dr. Sonndobler, dass Ihr Vorbild, wenn ich das so sagen darf, Ihr väterlicher Freund Lex Kayser in Ihren Armen sterben musste. Ich darf unser aller Bewunderung dafür zum Ausdruck bringen, dass Sie mit diesem unfassbar traurigen Ereignis so souverän und professionell umgehen.«
Sonndobler grübelte über die Worte nach. Welche tiefere Bedeutung hatten sie? Was wollte ihm dieser Gauner damit sagen? Kritisierte er etwa, dass Sonndobler nicht vor lauter Trauer um den großen Vorsitzenden verging?
»Ich darf Sie im Namen unserer Organisation und all ihrer Freunde nun auf die Bühne bitten«, sagte Alexandre d’Annecy.
Sonndobler musste seine Beine förmlich zwingen, sich zu bewegen. Was kam jetzt? War das der Gang zu seinem größten Triumph oder zum Schafott. Hatten die Gesellschaften, die von New York aus die Fäden zogen, vor, ihn hier öffentlich hinzurichten? Als Strafe für den Mord an Lex Kayser? Sichtlich mitgenommen vom Stress dieses Abends erklomm Sonndobler die drei Stufen und stand schließlich auf der Bühne neben seinem Erpresser. Er fühlte sich wie im falschen Film. Nur dass er nicht im Kino saß, sondern Teil der Handlung war. Das alles konnte nicht wirklich wahr sein.
»Die Tradition der Osterbacher verlangt, das das jüngste Mitglied den neuen Vorsitzenden des Lenkungsausschusses und somit den Präsidenten der Osterbacher-Organisation verkündet. Ich tue das mit Stolz und Ehrfurcht. Ab sofort ist Dr. Albert Sonndobler der Herr aller Osterbacher. So wurde es von Lex Kayser festgelegt und von den Familien, Einzelpersonen und Organisationen, die seit siebzig Jahren die Geschicke der Osterbacher bestimmen, bestätigt. Ich gratuliere.«
Alexandre d’Annecy gab Sonndobler die rechte Hand und ging auf das linke Knie, um seine Ergebenheit zu demonstrieren. Sonndobler war diese Geste peinlich, und er versuchte, den Mann nach oben zu ziehen.
Im Saal waren alle aufgestanden und klatschten frenetisch. Wer auch immer unter den Anwesenden sich Chancen ausgerechnet hatte, anstelle von
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