Bluteis: Thriller (German Edition)
gehorchen einem alten Grundsatz: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein einzelner Mensch wird auf der Winter-Rallye sterben. Am gleichen Tag verhungern Tausende!«
»Mein lieber Gott, ein Terrorist, der sich auf die Bibel und auf Moral beruft.«
»Nichts gänzlich Neues, nicht wahr, lieber Albert?«
Albert Sonndobler nickte nur. »Ein Terrorist, der sich auf die Bibel und Moral beruft und mit einem Bankenchef ins Sternerestaurant zum Diner geht«, dachte er bei sich, »das ist vielleicht auch nicht wirklich neu.«
Der Oberkellner kam. Sonndobler orderte ein halbes Dutzend Belon-Austern, die geschmorte Rippe vom Wagyu-Rind und behielt sich die Entscheidung, ob er Käse oder Süßes zum Dessert wollte, für später auf.
»Ich schließe mich Herrn Dr. Sonndobler an«, sagte Alexandre D’Annecy lächelnd.
Zwanzig Jahre zuvor – 17. Mai, 14 Uhr 18
Boulder, University of Colorado
Um Kisi herum sitzen Studenten, einige in T-Shirts und mit Basekappen, die nicht gerade alle den schlauesten Eindruck machen. Hier in den Bergen von Colorado kommen zu den üblichen amerikanischen Studenten, die ihr Studium mit besonderer Leistung auf Footballplätzen und in Basketballhallen verdienen, noch diejenigen hinzu, die als Skihoffnungen der Nation gelten. Doch wieso haben sich gerade diese Sportskanonen in Physik einschreiben müssen? Liegt da ein Missverständnis vor? Physics und physical? Physik und physisch? Kisi hat schon nach kurzer Zeit an der Uni begriffen, dass diese Typen von den Trainern schon vor den Tests die Prüfungsantworten erhalten. Da alles im Multiple-Choice-Verfahren ist, müssen sie sich nur rund zwanzig Nummernkombinationen pro Test merken. Selbst das überfordert den einen oder anderen, aber die Mehrheit der Sportcracks kommt damit durch. Außerdem die Anwesenheit in den Kursen ist wichtig. Die physische Anwesenheit (vielleicht daher die Verwechslung) wird zu Beginn jeder Stunde notiert. Darum sind sie auch heute wieder da und dösen mit stumpfen Mienen vor sich hin. Obwohl der Professor, der mit einem einfachen grauen Hemd und der bolo tie , der Cowboy-Krawatte, um den zugeknöpften Kragen vor ihnen sitzt, das Spannendste erzählt, was Kisi jemals gehört hat. Es ist so spannend, dass sogar die Video-Gruppe der Uni zwei Leute mit Kameras geschickt hat. Der Vortrag des Professors soll für weitere Studenten aufgezeichnet werden. Alle Studenten der University of Colorado sollen ihn sehen. Sie wollen ihn auch ins Internet stellen. Die CU will das in Zukunft öfter machen. Wichtige Vorlesungen ins Internet stellen. Der neue Dekan ist ein Fan von diesem Medium. Die CU war eine der ersten Unis, die vor einem Jahr Bewerbungen online verlangte. Sogar das Wall Street Journal hat darüber berichtet.
Der Professor in dem engen Klassenraum heißt Albert Allan Bartlett, aber alle nennen ihn nur Al. Er ist emeritierter Professor für Atomphysik. Eine Legende. Nicht nur, weil er ab 1944 in Los Alamos am Manhattan Project, der amerikanischen Nuklearbombe, mitgearbeitet hat. Sondern weil er seinen Vortrag »Arithmetik, Bevölkerung und Energie« seit 1969 über eintausend Mal gehalten hat. Im Schnitt einmal pro Woche. Und heute hält er ihn vor den verschnarchten Physik-Studenten des zweiten Semesters. Unter ihnen Kisi. Aber das weiß Professor Al Bartlett nicht. Niemand weiß, dass Kisi Kisi ist. Für die Uni-Verwaltung, für ihre Schwestern ihrer Studentenverbindung Delta Gamma, für die Professoren und die Studierenden ist Kisi ganz einfach Joanna aus Ghana. Die sich dort einen der besten Schulabschlüsse des Landes erarbeitet hat und ein Stipendium der Pinewood Women’s Foundation, die von einer internationalen Firmengruppe mit Sitz in den Niederlanden finanziert wird, erhalten hat, um in den USA Physik studieren zu können.
Für die Studenten ist Joanna eine Streberin aus Afrika. Eine absolute Einser-Studentin. Die nie auf Partys geht. Die die Initiationsriten in der Schwesternschaft Delta Gamma über sich ergehen ließ. (Wie sollten die Studentinnen wissen, dass sie schon ganz andere Dinge über sich hat ergehen lassen müssen.) Mit der niemand etwas zu tun hat oder zu tun haben will. Niemand außer Abdul, ein Kommilitone aus Tanger, der heute wieder in der ersten Reihe sitzt. Auch Abdul will es wissen, will besser sein als die amerikanischen Bubis, denen die Eltern oder die sportliche Begabung das Studium finanzieren. (Abdul verschweigt und verdrängt gern, dass sein Onkel Omar, der von New York aus den größten
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