Bluteis: Thriller (German Edition)
Geburtsraten fallen. Und die heute niedrigen Todesraten werden steigen. Und das wird keine siebenhundertachtzig Jahre dauern. Welche Optionen haben wir also, wenn wir das Problem angehen wollen?«
Nächste Folie.
»Hier sehen wir das menschliche Dilemma. Alles, was als gut angesehen wird, verschlimmert das Problem. Alles, was als schlecht angesehen wird, hilft, das Problem zu verkleinern. Wenn es jemals ein Dilemma gab, dann dieses. Und es gibt eine offene Frage: Bildung – schreiben wir sie in die rechte oder die linke Spalte? Derzeit führen wir sie in der linken, der positiven Seite. Leider hat sie bislang nicht viel gebracht. Und die Natur wählt bereits von der rechten Seite der Liste. Sie haben von der Aids-Epidemie gehört, die in Afrika wütet. Die Natur kümmert sich um das Problem.«
Der Professor nimmt die Folie vom Projektor und schaut in die Runde. »Sie kennen Isaac Asimov, den Wissenschaftler und Science-Fiction-Schriftsteller. Er hat eine der schlauesten Sachen gesagt, die ich seit langem gehört habe. Er wurde 1969 in einem Interview gefragt: ›Was geschieht mit der Idee der Menschenwürde, wenn das Bevölkerungswachstum so weitergeht wie bisher?‹ Asimov sagte: ›Menschenwürde wird komplett zerstört. Ich nutze meine Badezimmer-Metapher, um das zu erklären. Wenn zwei Menschen in einer Wohnung mit zwei Badezimmern leben, dann haben beide die große Badezimmer-Freiheit. Sie können das Badezimmer jederzeit benutzen und so lange dort bleiben, wie sie wollen, um zu tun, was sie wollen. Und jeder glaubt an die große Badezimmer-Freiheit. Sie sollte in der Verfassung festgeschrieben werden. Wenn aber zwanzig Menschen in dieser Wohnung mit den zwei Badezimmern wohnen, ist es egal, wie sehr jede Person an die große Badezimmer-Freiheit glaubt, es gibt sie nicht mehr. Sie müssen Zeiten vereinbaren, Sie müssen an die Tür klopfen:‹ ›Wie lange brauchst du noch?‹ – und so weiter.«
Abdul und Kisi sind die einzigen im Raum, die nicht lachen. Abdul in seinem grauen Sweater und dem Backenbart nickt bedächtig vor sich hin. Kisi beobachtet ihn aus der letzten Reihe, in der sie immer sitzt. Sie wird ihn nach dem Vortrag ansprechen. Die rechte Spalte der Folie von Professor Bartlett und die Metapher von Isaac Asimov bedeuten den Tod ihres Kontinents. Das verstehen die Kommilitonen nicht, sie denken gerade an ihren eigenen Kontinent und …
Auf einmal ist Kisi wie vom Blitz getroffen. Beide Kontinente werden diese Probleme bekommen. Alle Kontinente. Und dann werden die Starken die Schwachen töten. Kisi wird dagegen etwas unternehmen. Sie muss. Sie wird dagegen ankämpfen. Sie wird sich nie mehr von den Stärkeren auf die Ladefläche eines Autos werfen und vergewaltigen lassen. Sie wird nicht zulassen, dass das den Völkern ihrer Heimat zustößt. Sie braucht Verbündete. Abdul wird ihr erster sein. Und es werden viele werden.
Kisi hat verstanden. Sie kann denken. Sie wird Tag und Nacht denken. Sie wird besser werden, schlauer, schneller als diese hohläugigen Football-Monster um sie herum. Sie wird sie besiegen, bevor sie kommen werden, um sie zu holen.
Sonntag, 13. Januar
Val Roseg, Oberengadin
Wer seine Grenzen verschieben will, muss sie erst einmal erreichen, sagte sich Sandra Thaler wieder und wieder. Schon lange hatte sie aufgehört, ihre Schritte zu zählen. Und auf den Höhenmesser in der Armbanduhr, die sie am linken Handgelenk trug, hatte sie keinen Blick mehr geworfen, seit sie die Schneise verlassen hatte, die sie auf die Südseite des Piz Corvatsch geführt hatte. Nur noch ihre Herzfrequenz war relevant. Dies war ein Training, keine Genusstour. Ein hartes Training. Wer Weltmeisterin im Skibergsteigen werden wollte, musste bereit sein, etwas dafür zu tun. Auch an einem Morgen eine Tour zu unternehmen, für die ein Normalmensch einen ganzen Tag Gehzeit einkalkuliert hätte. Deren Luftlinienstrecke schon über zwanzig Kilometer lang war. Gut, fünf bis sieben davon würde es bergab gehen. Doch der weitaus größere Teil wurde bestimmt von steilen Aufstiegen in tief verschneitem Gelände, in das an diesem Morgen vor ihr sicherlich kein Mensch eine Spur hinterlassen hatte.
Von ihrer Wohnung in Maloja war sie morgens um fünf aufgebrochen, gerade als die letzten Flocken eines ergiebigen Schneeschauers niedergingen. Zunächst spurte sie am Südufer des Silser Sees entlang, dann ging es flach bis leicht ansteigend zur kleinen Ortschaft Crasta hinauf. Sie rannte beinahe wie ein Biathlet
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