Bluteis: Thriller (German Edition)
einige der Teilnehmer untereinander vereinbart, am Abend ihre handgestoppten Zeiten zu vergleichen. Heston war einer von ihnen. Mit einem russischen Telekom-Unternehmer hatte er gewettet, wer als Erster in Kitzbühel ankommen würde. Dabei ging es gentlemanlike zu – Betrug war gleich Ehrverlust und damit unter echten Männern ausgeschlossen. Es ging um den symbolischen Einsatz von einem US-Dollar.
Der Starter schickte den American LaFrance auf die Strecke. Das Gebrüll des schweren Wagens übertönte den Applaus des Publikums. Anthony Heston hob die Rallye-Brille über das kurze Schild seines silbernen Retro-Helms. Dreißig Sekunden später bekam er das Flaggenzeichen. Er gab Vollgas und ließ die Kupplung springen, dann drehte er den Motor auf der abschüssigen Via Arona bis in den roten Bereich. So schön wie zwischen den Häusern konnte er den Porsche-Sound selten hören. Unten an der Via Grevas, die am See entlang nach Norden führte, ging es scharf nach links. Der American LaFrance stand an der Kreuzung und wartete auf freie Fahrt. Anthony Heston rauschte mit knapp einhundert Stundenkilometern auf die Kreuzung zu. Gleich hier wollte er das rote Mammut hinter sich lassen. Er wartete, bis der Porsche bis auf zwanzig Meter an den Wagen mit der Nummer eins herangerast war. Der rollte gerade an, offenbar um in eine Lücke auf der Seestraße einzubiegen. Anthony Heston stieg in die Eisen, um sein kleines blaues Wägelchen elegant am American LaFrance vorbei- und um die Linkskurve driften zu lassen.
Seine Augen weiteten sich ein letztes Mal, als er bemerkte, dass die Bremse des Spyders nicht funktionierte. Sie reagierte auch nicht auf sein hektisches Pumpen mit dem rechten Fuß. Der flache Porsche raste unverzögert geradeaus auf die Via Grevas und fuhr unter den Milchlaster, der gerade von rechts kam. Nur die niedrige Stummelscheibe war zu hoch und wurde vom Stahlrahmen des Aufliegers abgerissen. Genauso wie Anthony Hestons Kopf, der in seinem Helm auf dem Asphalt kreiselte, während sein Rumpf zusammen mit dem Auto über die Straße raste und einen Satz die Böschung hinuntermachte.
Nach fünfzig Metern kam der Porsche auf dem zugefrorenen See zum Stehen …
Freitag, 18. Januar, 9 Uhr 50
Unterhalb des Piz Palü
Sandra musste in Erfahrung bringen, wo diese Frau steckte. Die Frau, die letztes Jahr in Begleitung des Mannes mit den Bernsteinaugen gewesen war. In Thiens Brief standen zwei amerikanische Namen, Craig und Barbara. Natürlich hatte sie den Brief heimlich gelesen.
Den Mann hatte sie erledigt. Jetzt war bestimmt diese Frau hinter ihr her. Musste ja. Sie musste wissen, dass er an diesem Morgen Sandra Thaler auf Tourenski verfolgt hatte. Sandra war zurückgekehrt, er nicht. Das musste die Frau in Alarm versetzt haben. Sie müsste das Tal nach ihm abgesucht haben. Und auch den Gletscher, wenn er ihr seine Koordinaten mitgeteilt hätte, bevor er auf Sandra gestoßen war.
Hatte er vielleicht nicht. Um keine elektronischen Spuren zu hinterlassen. Sandra hatte ja auch kein Handy bei ihm gefunden. Aber sie hatte ihn auch nicht komplett durchsucht. Die ganze Woche gab es keine entsprechende Meldung der Bergrettung im Internet. Keine Silbe von einem verschütteten Skitourengeher auf dem Roseggletscher. Keine Nachricht in der Lokalzeitung. Nichts. Niemand suchte ihn, niemand vermisste ihn.
Doch, diese Frau würde ihn vermissen. Sie würde nach ihm suchen. Und sie wusste, wo Sandra und Thien wohnten. Sie würde sie eines Nachts killen. Abstechen wie kleine Ferkel, die man im Schlaf umbringt, damit sie nicht so gotterbärmlich quieken. Dieser Mann hatte auf sie geschossen. Er hatte sie ausschalten wollen. Eine Zeugin beseitigen, die wusste, dass er an diesem 7. Januar 2012 im Raintal bei Garmisch unterwegs gewesen war.
Keine Frage. Die Frau würde das auch wollen. Sie war dabei gewesen an diesem Tag. Sie beide hatten gemeinsam Sandra aus der Lawine geschaufelt. Und hatten es später wahrscheinlich bereut. Sie hatten erst einmal ein bisschen Urlaub in Asien gemacht. Sie wussten ja, wo Sandra zu finden war. Sie war ja ständig in den Nachrichten gewesen, ein halbes Jahr lang. Die beiden konnten gut Deutsch. Sie hatten Sandra einfach auf den Nachrichtenwebseiten verfolgt.
Und Thien.
So musste es gewesen sein. Die Frage war nur: Warum hatte sich die Frau, die sich Barbara nannte, noch nicht bei ihr blicken lassen? Warum war sie noch nicht bei Sandra und Thien aufgetaucht? Warum waren sie beide noch am
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