Bluteis: Thriller (German Edition)
Leben?
Sandra grübelte und grübelte. Und sie blickte ständig hinter sich. So auch an diesem Tag bei dieser Skitour, die sie von der Diavolezza auf den Piz Palü führte. Doch da war niemand hinter ihr. Und wäre jemand vor ihr gewesen, hätte sie die Spur gesehen. Skitouren zu gehen war das einzig Vernünftige in dieser Situation. Unten im Tal konnte diese Frau jederzeit um eine Ecke springen. Konnte in einer Bar auf sie warten. Konnte ihr etwas in den Drink mischen. Einigermaßen sicher war Sandra nur im Berg, in Eis und Schnee. Doch sie konnte nicht Tag und Nacht Skitouren gehen.
Hatte sich Thien nicht auch ständig umgedreht in Garmisch am Weihnachtstag auf dem Osterfelder? Waren da nicht ein paar Bügel weiter hinten am Bernadein-Lift zwei Amis gefahren, die Sandra dann noch einmal auf der Piste hinter sich gesehen hatte? Waren das die beiden gewesen?
Sie würde mit Thien darüber sprechen müssen. Aber dann musste sie ihm gestehen, dass sie damals ins Raintal aufgestiegen war, dass sie von der Illustrierten 150000 Euro dafür bekommen hatte, dass sie die Fotos in der Zugspitzhöhle gemacht hatte.
Würde Thien ihr das glauben? Natürlich würde er. Er war ja dabei gewesen, damals in der Zugspitze. Dort hatte er eine vollkommen unglaubliche Geschichte erlebt. Und die Konsequenz würde heißen, dass sie beide verschwinden und untertauchen mussten.
Das machte Sandra wütend. Sie stieg noch schneller auf.
Freitag, 18. Januar, 18 Uhr
Maloja, Engadin, Apartment von Thien Hung Baumgartner und Sandra Thaler
»Ärgerlich«, murmelte Thien immer wieder vor sich hin. »Äußerst ärgerlich.«
Sandra trat von hinten an seinen Arbeitsplatz an der großen Panoramascheibe des Fotografenateliers. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar seiner Objektive und ein vollgekritzelter Zettel. Mit dem aufgeklappten Laptop sortierte Thien Fotos und checkte Mails. Durch das riesige Fenster hatte man einen grandiosen Blick auf die Berge, doch die interessierten Thien im Moment nicht. Er starrte auf den Bildschirm.
»Jetzt gräme dich nicht, dass du diesen schrecklichen Unfall nicht aufgenommen hast«, sagte Sandra. »Es wird doch reichen, dass du bei der Pferdegeschichte hautnah dabei warst. Du warst sogar Zeuge. Zumindest hast du die Leiche gefunden.« Sandra legte Thien sanft die Hand auf die Schulter.
Doch der schüttelte sie ab. »Ich bin Action-Fotograf. Da ist man nicht nur einfach hautnah dabei, da hat man die Action auf der Speicherkarte zu haben. Sie zahlen mich nicht dafür, dass ich einem Schweizer Polizisten stundenlang ein Protokoll in die Maschine diktiere.«
Sandra versuchte weiterhin, ihn zu beruhigen. »Aber Fotos, auf denen ein armes Mädchen von einer Astgabel stranguliert wird, druckt doch eh keiner. Und erst recht keine, auf denen ein abgerissener Kopf auf der Straße liegt und ein Mann ohne Kopf über das Eis des Sees fährt.«
»Bist du dir da sicher? Zumindest hätte ich dann den Augenblick davor gebraucht. So etwas drucken die Zeitungen, Bildunterschrift: Sekunden vor dem schrecklichen Ereignis. Und im Internet …«
»Ach komm, das wollen deine Amis nicht. Und außerdem kannst du nicht jeden Meter einer Rallye oder eines Ausritts überwachen. Und – ganz ehrlich – das willst du doch auch nicht, solche Bilder verkaufen. Das bist doch nicht du!«
»Ich bin ich. Ich will meinen Job gut machen. Und wenn die Mails von dem amerikanischen Verlag immer kürzer werden, dann mache ich mir halt Sorgen. Ich Trottel steh am Start von dieser Oldtimer-Rallye rum und knipse jeden, der dort losfährt, anstatt dass ich in der ersten Kurve stehe. Anfängerfehler, verdammt!«
»Und wenn du dort stehst, passiert der Unfall in der zweiten Kurve. Oder nach fünfzig Kilometern. Jetzt lass das doch!« Sandra wurde ärgerlich. Einen guten Job abliefern zu wollen war das eine. Sich deshalb ein Magengeschwür zu holen etwas anderes.
Thien klappte den Laptop energisch zu, stand auf und ging in die Küche, um sich noch eine Dose der österreichischen Aufputschbrause aus dem Kühlschrank zu holen. Dann kam er zu Sandra zurück, nahm einen tiefen Schluck und sagte: »Verstehst du nicht? Das mit den Steilwandfotos ist passé für mich. Es gibt Jüngere, die gehen noch mehr Risiko ein. Stellen sich in Fünfzig-Grad-Hänge. Ich mach das nicht mehr mit. Ich muss jetzt ein Fotograf werden, der auch andere Sachen macht. Vielleicht ist diese Event-Knipserei nicht das Gelbe vom Ei, aber es ist ein Anfang. Ich will ein solides Leben
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