Bluteis: Thriller (German Edition)
Läufe abgesagt wurden.
Markus Raeti verließ das Büro in der Talstation der Corvatsch-Bergbahn und stieg in den Allradler, den der deutsche Automobil-Sponsor zur Verfügung gestellt hatte. Er wollte seine schlechte Laune mit ein paar Bierchen hinunterspülen. Er mied das Event-Hotel Julier Palace, wo er zu Recht die ganze Freerider-Truppe vermutete. In dieser Sportart war der Konsum einer Mischung aus der klebstoffartigen Limonade des österreichischen Sponsors mit dem hochprozentigen Wässerchen des russischen Nebensponsors ein fester Bestandteil der Wettbewerbsvorbereitung. Auf Party hatte er an diesem Abend keine Lust. Darum hatte er sich bereits am frühen Abend mit seinem alten Freund Thien Hung Baumgartner verabredet. Thien hatte als Steilwandfotograf in den letzten anderthalb Jahrzehnten jede und jeden abgelichtet, der sich die Hänge in Alaska, Kamtschatka oder eben im Oberengadin hinabgewagt hatte. Und wie es sich für einen Sportfunktionär gehörte, war Markus Raeti bis zu seinem Kniegelenks- und vierfachen Wadenbeinbruch vor vier Jahren selbst Extremskifahrer gewesen.
Um zum Thailando-Restaurant im Hotel Albana zu gelangen, musste Raeti auf die andere Seite des Sees fahren. Das dauerte keine fünf Minuten. Thien würde schon seit einer halben Stunde dort sitzen, denn sie waren für 21 Uhr verabredet gewesen.
Tatsächlich saß Thien dort bereits beim zweiten Pils. Er wusste, dass ein OK-Chef zwei Tage vor einem Rennen nicht pünktlich sein konnte. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass Markus nicht jede Stunde Freizeit sofort in Schlaf investierte.
»Servus«, begrüßte Thien den sichtlich gestressten Raeti, als der das Thailando betrat.
»Hoi, der Thien!«
Beide umarmten sich und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern.
»Zum Glück haben sie dich nicht gleich als Hilfskellner engagiert. Passt ja hervorragend ins Ambiente«, scherzte Markus.
Thien grinste. Nicht viele Menschen durften ihn mit seiner asiatischen Herkunft hochnehmen. »Das wär so, als würdest du in Kapstadt gleich als Bedienung auf dem dortigen Oktoberfest genommen. Und Thailand und Vietnam sind nicht einmal Nachbarn wie die Schweiz und Deutschland.«
»Schön, dich zu sehen«, sagte Markus, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Wenigstens ein Lichtblick an diesem üblen Tag. Ich musste das Rennen absagen. Zu wenig Schnee. Alles verblasen. Selbst wenn es jetzt zu schneien beginnt und bis Samstag früh nicht mehr damit aufhört. Am Sonntag können wir einfach nicht fahren.«
Thien stöhnte enttäuscht auf. Das einzige Event, das ihn wie bei seinen üblichen Jobs in die Steilhänge geführt hätte oder bei dem er spektakuläre Aufnahmen aus dem Heli hätte machen können, fiel aus. Nun, es hatte auch Vorteile. »Dann kann ich am Sonntag mal ausschlafen. Sandra muss zwar fast jeden Morgen um sieben raus zum Training, aber ich dreh mich einfach noch zweimal um.«
Der thailändische Kellner brachte Markus’ Pils. Sie prosteten sich zu.
»Und außerdem«, sagte Thien trocken, »wenigstens keinen Toten bei deiner Veranstaltung.«
»Hör bloß auf. Das ist der Wahnsinn, sag ich dir. Mir war auch schon angst und bang. Obwohl ich nicht gerade abergläubisch bin. Aber so etwas will ich nicht erleben.« Markus Raeti klopfte dreimal auf die Tischplatte.
»Soso, nicht abergläubisch«, kommentierte Thien.
»Lass uns was essen, bevor sie die Küche zumachen und … Moment.« In Markus’ Hosentasche vibrierte es. Er zog sein Mobiltelefon heraus und schaute auf die Nummer im Display. »O nein, ein Notfall. Nicht jetzt. Ich sterbe vor Hunger.« Er nahm das Gespräch an und wurde noch blasser, als er sowieso schon war. »Ich komme«, sagte er knapp.
»Wo brennt’s?«, wollte Thien wissen, während Markus das Handy wieder wegsteckte.
»Der Chef des Jugendmarketings der Caisse Suisse. Zusammenbruch. Wahrscheinlich Alkoholvergiftung.«
»Und da musst du hin?«
»Der Mann vertritt unseren wichtigsten Sponsor.«
»Ich komm mit.« Thien legte für die drei Pils fünfzehn Franken auf den Tisch und zog sich seine Daunenjacke an. Dann eilten sie nach draußen und stiegen in Raetis Auto. Schweigend fuhren sie zum Hotel Julier Palace.
Als sie dort ankamen, wurde der bewusstlose Mann gerade in die Ambulanz geschoben. Markus Raeti wollte hinterherklettern, um einen seiner wichtigsten Geldgeber auf dem Weg ins Hospital zu begleiten. Doch als er den Fuß auf den Tritt am Heck des Krankentransporters setzte, plärrte ihm der Rettungssanitäter
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