Bluteis: Thriller (German Edition)
alles, was schiefgehen kann, irgendwann schiefgeht? Natürlich konnte jederzeit beim Fahren mit alten Autos ein Unfall passieren. Natürlich konnte eine übermütige Reiterin in einer Astgabel hängen bleiben. Natürlich konnte ein nicht gerade sehr geübter Fahrer beim Cresta Run aus der Bahn geworfen und von seinem Schlitten erschlagen werden. Die Wahrscheinlichkeiten, dass diese Fälle eintraten, waren ja jede für sich genommen nicht einmal allzu gering. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle drei Unfälle innerhalb weniger Wochen ereigneten?
Thien musste mehr über die Toten herausfinden. Und er musste Ausschnittvergrößerungen seiner Bilder auf Papier machen lassen. Von einem professionellen Fachlabor. So eines gab es im Engadin nicht. Er googelte. In Zürich gab es ein Labor, das laut seiner Website technisch so ausgestattet sein müsste, dass Thien es für wert befand, zwei Stunden Hin- und Rückreise zu investieren. Er googelte weiter. Kurze Berichte über den Schlittenunfall. Kurze Meldungen über den Reitunfall. Ein bisschen längere Berichte über den Autounfall, denn da waren die Bilder am beeindruckendsten. Doch kein Medium, kein schweizerisches, kein deutsches, kein englisches, kein amerikanisches stellte irgendeinen Zusammenhang her zwischen den drei Ereignissen.
Doch. Da. Auf die Jungs von der BILD war Verlass. Unheimliche Todesserie. Immerhin. Thien war nicht der Einzige, dem das aufgefallen war. Aber die Schweizer Behörden gaben keine Stellungnahme ab. Spekulation. Zufall. Davon war die Rede. War es Zufall? Thien konnte das nicht glauben. Er glaubte grundsätzlich nicht an Zufälle. Nicht mehr. Doch mit wem konnte er reden? Er kannte hier in der Schweiz niemanden, der Einblick in die Ermittlungen der Polizei gehabt hätte. Es war zum Auswachsen. Er musste diese Events fotografieren. Und wusste genau, dass da irgendetwas nicht stimmte.
Er klappte den Laptop zu, zog sich aus und legte sich neben Sandra, die seine Anwesenheit mit einem erleichterten Seufzer quittierte. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht gut schlafen kann«, sagte sie und kuschelte sich ganz eng an ihn.
Thien war bereits eingeschlafen.
Donnerstag, 7. Februar, 18 Uhr 30
Silvaplana bei St. Moritz, Organisationsbüro Engadinsnow
Im Oberengadin sind an Schattenhängen oberhalb von rund 2500 m bodennahe Schichten der Schneedecke kantig aufgebaut und schwach verfestigt. Die extrem starken Winde des Sturms Berta haben das Gelände abseits der Pisten praktisch leergefegt. Die mangelhaften Schneeverhältnisse im North Face des Corvatsch wie auch an den beiden Qualifikationshängen lassen einen sicheren und regelkonformen Free-Ride-Contest nicht zu. Der Wettbewerb wird ersatzlos gestrichen.
Markus Raeti drückte auf Senden, dann klappte er den Laptop zu. Er verzog das Gesicht und starrte hinaus in die Dunkelheit. Er sah die Beleuchtung der Bergstation des Piz Corvatsch von 3300 Metern herab ins Tal grüßen. Das war ein schlechtes Zeichen. Keine Wolken. Kein Schnee.
Es war wirklich zu enttäuschend nach all der Vorbereitung. Als Chef des Organisationskomitees konnte er nicht verantworten, dass sich die Skifahrer und Snowboarder bei der geringen Schneelage die mit Felsen durchsetzte Nordflanke des Corvatsch hinunterstürzten.
Spätestens morgen früh würden die Fahrer und die Presse sein Bulletin lesen. Die Enttäuschung der Teilnehmer wäre noch größer als seine eigene und die seines Teams. Die Freerider waren dafür bekannt, dass sie sich bei nahezu allen Bedingungen in den Tiefschnee und über zehn bis zwanzig Meter tiefe Felsabstürze warfen. Dort, wo ein normaler Wintersportler schon längst vor Angst weinend das Weite gesucht hätte, fingen sie erst an. Markus Raeti würde zig Mails von den Teilnehmern bekommen, teils mit üblen Beschimpfungen, teils mit schlichten Rückforderungen der Start- und Versicherungsgebühr, die die Starter bereits bei der Anmeldung zu hinterlegen hatten. Die meisten Mails würden Beschimpfungen und Forderungen beinhalten. Die schlimmsten Verwünschungen würden von den amerikanischen und kanadischen Steilwand-Freunden kommen. Erstens dachten die, sie wären unkaputtbar, zweitens hatten sie viel Geld in die Anreise gesteckt, und nicht alle hatten ausreichend Sponsoren, um ein paar tausend Dollar für die Schneiderfahrt ins Engadin einfach wegzudrücken. Er hoffte nur, dass sich niemand dazu hinreißen ließ, ein privates Rennen im Steilhang zu wagen, wenn die offiziellen
Weitere Kostenlose Bücher