Bluteis: Thriller (German Edition)
Rauchschwaden aufstieg. Thien fasste sich ein Herz. Er zog Anorak, Winterstiefel und Skihose aus und sprang nur mit Funktionsunterwäsche bekleidet in das Loch in der Mitte des Zeltes. Er tauchte in dem eiskalten Wasser zwanzig, dreißig Meter in die Richtung, in der er das Ufer vermutete. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er musste nach oben. Inständig betete er, dass er nicht unter ein großes Stück Eis getaucht war.
Er schaute nach oben und sah blauen Himmel über sich, als sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Drei Armschläge weiter befand sich das rettende Ufer. Als sich Thien mit letzter Kraft auf den Eisrest hievte, der das Ufer umkränzte, half ihm ein Sanitäter des Roten Kreuzes hinauf. Thien schlotterte am ganzen Leib. Hastig wurde ihm eine goldglänzende Rettungsdecke um die Schultern gelegt. Dann führte ihn der Helfer über die Uferstraße, die Via Grevas. Da alle Rettungs- und andere Einsatzfahrzeuge bereits mit Überlebenden belegt und unterwegs ins Spital Oberengadin und die Privatklinik Gut waren, wurde Thien in das Hotel Bellaval gebracht, das sich direkt hinter der Uferstraße befand. Hier warteten, in Folien und Decken gehüllt, weitere durchnässte Gerettete. Thien ging die Tische im Speisesaal ab, an denen sie hinter heißen Getränken saßen. Sandra war nicht unter ihnen.
Thien setzte sich an einen Tisch. Zum ersten Mal, seitdem er als Dreijähriger im südchinesischen Meer auf dem Flüchtlingsschiff getrieben war, fühlte er sich von allen Menschen auf der Welt allein gelassen. Er weinte. Dann ließ er sich auf die Arme sinken, die er auf der Tischplatte verschränkt hatte, und schlief ein.
Teil 2
»In der Einsamkeit der Berge ist man nie allein.«
Heini Holzer, Südtiroler Alpinist (1945–1977)
Sonntag, 17. Februar, 12 Uhr
St. Moritz
D as Chaos war unbeschreiblich. Natürlich hatte die Schweiz eine der besten Katastrophenschutzorganisationen der Welt. In einem Land, in dem jeder erwachsene Mann Angehöriger der Miliz oder der Armee war und in dem Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe nicht nur auf dem Papier etwas zählten, waren auch Feuerwehren, Polizei und Zivilschutz erstklassig ausgestattet und organisiert.
Alle Szenarien waren immer und immer wieder durchgespielt worden. Bis zum Terroranschlag mit einer schmutzigen Atombombe. Doch niemand hatte mit einem derartigen Angriff gerechnet. Dass ein See in die Luft gesprengt würde. Ein See, auf dem sich zehntausend Menschen befanden. Und dreißig Pferde. Aber die waren jetzt eher nebensächlich. Obwohl das nicht alle Besitzer so sahen.
Ein Scheich hatte tatsächlich einem Pistenraupenfahrer, der am Rand des riesigen Eislochs mit seinem Gerät stand, eine Million Dollar geboten, wenn er sein Rennpferd, das sich schnaubend und strampelnd an der Oberfläche halten konnte, mit einem Seil aus den Fluten zog. Nebenan gingen die Menschen unter. Der Raupenfahrer rettete lieber fünfzehn von ihnen mit seiner Seilwinde das Leben. Die Flüche und Verwünschungen des Pferdebesitzers ließ er an den Ohrenklappen seiner Arbeitsmütze abprallen.
Durch St. Moritz liefen verzweifelte Menschen, die ihre Angehörigen suchten. Mittlerweile waren alle vom Eis oder aus dem Wasser Geretteten in Hotels oder Pensionen untergekommen. Selbst in einigen Nobelboutiquen saßen eine Stunde nach dem großen Knall verstörte Besucher des White Turf in Decken und Folien gehüllt. Manche hatten sich einfach neu eingekleidet und ließen ihre durchnässten Klamotten gleich vom Verkaufspersonal entsorgen.
Und dann wollten alle nur noch eines – nichts wie weg. Ein wahrer Exodus aus den Suiten des Badrutt’s Palace, des Carlton und des Kulm Hotels setzte ein. Jeder Gast, der seine sieben Sinne und seine Familie komplett beisammen hatte, packte die Koffer und wies das Personal an, den Abmarsch zum Flughafen vorzubereiten. Die Pagen und Hausdiener in den Hotels kamen nicht mehr mit dem Kofferschleppen nach. In den Lobbys stapelten sich Schrankkoffer und Reisetaschen. Das war einerlei. Sie würden hier noch einige Zeit stehen. Die Straßen in und aus dem Dorf waren verstopft. Nichts ging mehr.
Am Luftwaffenstützpunkt auf dem Flughafen in Samedan kam der Krisenstab zusammen. Armee, Polizei und Bevölkerungsschutz unterstanden im Krisenfall dem Innenministerium. Das machte die Wege kurz und sollte Kompetenzgerangel verhindern. Der Alarmplan sah vor, dass im Fall eines Anschlags dieses Ausmaßes sofort drei Brigaden des schweizerischen Heers in Marsch
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