Bluteis: Thriller (German Edition)
gesetzt werden sollten. Vom Generalstab in Bern kam der Befehl, die Gebirgsinfanteriebrigade 9 in Bellinzona herzuschicken. Brigadekommandant Umberto Rossi landete mit seinem Führungsstab in Samedan und übernahm umgehend das Kommando vor Ort. Über die Passstraßen rollten die Truppentransporter an.
Unmittelbar nach dem Anschlag gab es zwei übergeordnete Aufgaben. Die Zivilschützer und das Rote Kreuz mussten für die Verletzten sorgen und sich um die Überlebenden kümmern. Dazu musste zunächst festgehalten werden, wer verletzt, wer tot, wer vermisst und wer unverletzt war. Es bewährte sich, dass die Schweiz ein funktionierendes Gästemeldewesen hatte. So konnte schnell festgestellt werden, welche Personen wo fehlten. Das Problem war, dass die allermeisten Gäste, die zum White Turf nach St. Moritz gekommen waren, Tagesgäste waren. Niemand konnte sagen, wie viele von dieser Personengruppe in den See gefallen, wer aus dem Eiswasser aufgetaucht war und wer nicht.
Die Sicherheitsbehörden, allen vorab die Schweizer Armee, mussten sich einer ganz anderen Mammutaufgabe stellen. Nachfolgeanschläge mussten verhindert werden. Und Polizei und Geheimdienst mussten die Täter fassen. Das bedeutete, dass jeder Zentimeter des Hochtals durchsucht werden musste. Nur wonach und nach wem?
Umberto Rossi telefonierte mit dem Innenminister, um sich seinen Plan noch einmal absegnen zu lassen. Bevor nicht die allerdringendsten Fragen wenigstens ansatzweise geklärt waren, wollte er keine Maus ins Engadin herein- und erst recht nicht hinauslassen. Und sei die Maus königlicher Abstammung. Die Polizei sperrte die Straßen, und weder ein Maybach noch ein Bentley berechtigte zur Durchfahrt zum Flughafen nach Samedan oder in Richtung des Malojapasses. Diese Erfahrung war für einige der hochvermögenden Gäste neu. Es war gut, dass die Gendarmen der Graubünder Kantonspolizei weder Arabisch noch Russisch oder Hebräisch verstanden. Sonst wären massenhaft Bußgelder wegen gröbster Beamtenbeleidigung fällig geworden. Dass die Mobilfunknetze abgeschaltet wurden, was bei einem Bombenanschlag internationale Standardprozedur war, um das Auslösen weiterer Zünder per SMS oder Internet zu verhindern, trieb einige der Reisenden zusätzlich zur Weißglut.
Der Luftraum über dem Engadin wurde für Privatflieger aller Art gesperrt. Der Flughafen wurde zur militärischen Sicherheitszone erklärt. Die privaten Boeings und Challengers der reichen Gäste wurden beschlagnahmt. Die grau lackierte 737 eines russischen Wodka-Oligarchen wurde zum Lazarettflugzeug deklariert. In ihm sollten Verletzte, die nicht in den Engadiner Kliniken versorgt werden konnten, nach Zürich geflogen werden. Schützenpanzer rollten vor das Hauptgebäude und an die vier Ecken des Flughafengeländes. Die Luftabwehrstellungen, die sich wie überall in der Schweiz als Heustadel getarnt um den Flughafen und den Ort herum auf den Hängen und Wiesen befanden, wurden mit Milizionären besetzt und gefechtsbereit gemacht. Über den schneebedeckten Bergen kreisten die F/A-18 Hornets der Schweizer Luftwaffe.
Auf den Straßen im Dorf wurden an allen Ecken Sperren errichtet. Niemand kam durch, außer er konnte nachweisen, dass er sich auf dem Weg in sein Hotel befand. Dort angelangt, wurden die Gäste gebeten, so lange nicht ihr Zimmer zu verlassen, bis sie dazu aufgefordert wurden oder es ihnen wieder erlaubt wurde. Wer kein Zimmer hatte, sollte sich in ein Café oder Restaurant begeben und der Dinge harren.
Milizionäre patrouillierten durch die Straßen und achteten darauf, dass die Ausgangssperre eingehalten wurde. Eine dreihundertköpfige Sondereinheit der Armee erhielt den Auftrag, jeden Menschen, der sich im Tal aufhielt, erkennungsdienstlich zu behandeln. Der Diplomatenstatus, auf den sich nicht wenige beriefen, bei denen Fingerabdrücke und ein Augenscan abgenommen wurden, bevor sie mit einem Stempel auf dem Handrücken als erfasst markiert wurden, galt nichts mehr. Die Durchsuchungen sämtlicher Apartments, Wohnungen und Hotelzimmer fanden in allen Dörfern des Engadin statt. Sie würden Tage, wenn nicht Wochen dauern. Die Schweizer Armee internierte die gesamte Besucherschaft des berühmtesten Wintersportortes der Welt.
Nur wenige Stunden nachdem ungezählte Detonationen den See und mit ihm das Vertrauen in den Ruf der Eidgenossenschaft als sicherstes Land des Universums erschüttert hatten, machte St. Moritz den Eindruck, als befinde sich die Schweiz seit Jahren im
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