Bluteis: Thriller (German Edition)
gemeinsam mit ihm nach oben ziehen ließen. Fünf- oder sechsmal hintereinander geschah das. Er konnte nicht anders: Er musste kurz stehen bleiben, seine Kamera vor das linke Auge halten und eine Serie von der Szenerie schießen.
Er rannte weiter, erreichte den Kreisverkehr der Uferstraße, von dem der Hauptzugang auf das versunkene Gelände des White Turf führte. Ein Polizist wollte ihn davon abhalten weiterzulaufen. Thien stieß ihn zur Seite, sprang auf die große Eisscholle, auf dem das VIP-Zelt stand und die nur zwei Meter vom Ufer entfernt auf dem Wasser schwamm. Ihm strömten Menschen in langen Pelzmänteln und Fellmützen entgegen. Einer hatte noch das Champagnerglas in der Hand. Eine Dame im pink gefärbten Fuchsmantel und Moon Boots im passenden Farbton lief auf Thien zu. Anstatt geradeaus in Richtung Ufer zu stolpern, drehte sie ab und fiel nach rechts ins Wasser, wo sie wie ein Stein versank.
Thien wartete nicht, bis der Eingang des VIP-Zeltes von den nach draußen taumelnden Gästen frei wurde. Er fingerte sein Taschenmesser aus dem Anorak, schnitt eines der PVC-Fenster auseinander und zwängte sich durch das Loch ins Innere. Er sah sich um. Die Stehtische lagen kreuz und quer im Raum verteilt, ebenso die Stühle, die um die runden Bankett-Tische gestanden hatten, daneben die schneeweißen Lammfelle, die als Sitzunterlagen gedient hatten. Das Buffet war ebenfalls über den Boden verstreut, und die Edelstahl-Kühlschränke mit französischem Schaumwein und Spirituosen waren umgeworfen worden und hatten ihre grünen und weißen Flaschen sowie deren Inhalt über den roten Fußboden ergossen. Überall lag zersplittertes Glas. Die Vertreterin der italienischen Designerschuh-Firma hatte nichts Besseres zu tun, als ihre hochhackigen Stiefeletten in die Ausstellungskoffer zu packen.
»Los, raus hier!«, schrie Thien sie an. »Das geht hier gleich alles unter!« Als die dunkelhaarige Dame einfach weitermachte, packte Thien sie und zerrte sie zum Ausgang, wo sie ein russischer Geschäftsmann im langen weißen Ledermantel am Arm nahm und weiterzog. Thien ging wieder zurück ins Zelt und fand den Aufgang in den ersten Stock der Aluminium-Konstruktion. Von oben kamen immer noch Gäste, während das ganze VIP-Zelt zusammen mit der riesigen Eisscholle, auf der es stand, ungeheuer schwankte. Mit Panik in den Augen fielen die Menschen mehr die Treppe hinab, als dass sie gingen.
Thien wartete, bis niemand mehr von oben kam, und hastete hinauf. Auch im ersten Stock waren die Event-Möbel durcheinandergeworfen. Nirgends war mehr ein Mensch zu sehen. Thien hob hier und dort einen Tisch auf. Nichts. Niemand. Er stürzte hinaus auf den Balkon, von dem aus die VIPs das Skijöring angesehen hatten. Auch hier war kein Mensch, vor allem keine Sandra.
Verzweifelt drehte sich Thien um und rannte, die Handläufe fest umklammert, die Treppe wieder hinab. An der linken Seite befand sich ein Küchenzelt. Hatte sich Sandra dorthin verlaufen? War sie durch dieses Zelt ins Freie gelangt? Thien blickte sich in der mobilen Gourmetküche um. Die Herde brannten noch, und Töpfe und Pfannen standen auf den Gasflammen, doch die Köche waren verschwunden. Thien fand durch den Seitenausgang ins Freie. Doch hier ging es nicht weiter, die Abrisskante der Eisscholle verlief wenige Zentimeter vor dem Küchenausgang. Also hastete er zurück.
Der Boden unter seinen Füßen schwankte mit einem Mal so heftig, dass sämtliche Töpfe von den Feuerstellen rutschten. Brach die Scholle unter ihm? Der erste Gasherd rutschte von seinem Platz. Die Gasleitung, die zu einem Tank außerhalb des Zelts führte, riss und fing Feuer. Die Metallstreben des Zelts ächzten und knarzten. Thien musste raus, bevor ihn das einstürzende Zelt mit in die Tiefe des Sees riss. Oder die Plastikplanen Feuer fingen und ihn einschmolzen.
Ein großer Kühlschrank fiel direkt vor ihm um, landete mit dem Kopfende auf einem hüfthohen Küchenbuffet und versperrte den Weg zurück ins Hauptzelt. Wieder setzt Thien sein Taschenmesser ein, schnitt sich durch die Trennwand und musste erschrocken feststellen, dass inmitten des Hauptzeltes ein riesiges Loch klaffte. Die äußeren Wände und die vier Hauptpfeiler des Zeltes standen mittlerweile auf vier einzelnen kleinen Schollen. Es war eine Frage von Sekunden, bis diese fragile Konstruktion in sich zusammenstürzen oder zur Seite wegkippen würde.
Hinter Thien griff das Feuer auf eine Fritteuse über, deren Fett in schwarzen
Weitere Kostenlose Bücher