Bluteis: Thriller (German Edition)
Welle auf, und im nächsten Moment waren die Pferde weg.
Zuerst hatte er gedacht, er würde träumen. Oder die Kamera wäre irgendwie kaputt. Aber auch als er nicht mehr durch den Sucher blickte, zeigte sich dasselbe unwirkliche Bild. Die Pferde rannten nicht mehr über das Eis. Sie schwammen im Wasser. Bis sie nach wenigen Sekunden untergingen. Größere und kleinere Eisschollen schwammen auf dem Wasser, an denen sich Menschen festzuklammern versuchten und um Hilfe schrien.
Auf der anderen Seite versank das erste der Catering-Zelte in den Fluten.
»Sandra!«, schrie Thien. Er wunderte sich nicht einmal, dass er nicht ins Wasser stürzte. Dafür hatte er keine Zeit. Er wollte quer über den See zum VIP-Zelt laufen, in dem seine Freundin ihre Promifotos schoss und das noch stand. Doch womöglich würde es ebenfalls jeden Moment in sich zusammensinken, so wie die Zelte des Automobilsponsors und der Champagnermarke, die gerade zusammenbrachen und mit ihren Plastikdächern ihre Insassen unter sich begruben. Aber noch stand das VIP-Zelt der Caisse Suisse. Thien hatte keine Ahnung, warum das so war. Wichtig war nur seine Sandra. Seine Frau. Sein Kind. Sie befanden sich in diesem Zelt. Sie waren in Lebensgefahr.
Thien konnte aber nicht auf direktem Weg dorthin laufen. Die Eisfläche zwischen ihm und dem VIP-Zelt war weg. Dort, wo vor einer Minute noch eine Rennbahn gewesen war, waren nur Wasser und Eisstücke. Eine Flutwelle erreichte das Eis, auf dem er stand. Er rannte zwanzig Meter in die entgegengesetzte Richtung und erreichte das Ufer. Er hatte wohl Glück gehabt. An diesem Bereich des Sees, wo sich keine Menschen außer ihm selbst aufgehalten hatten, hatte es keine Explosionen unter der gefrorenen Ebene gegeben. Ein Eisrand von vielleicht dreißig Metern war geblieben und nicht eingebrochen. Erst jetzt lösten sich Stücke aus diesem Rand, als das Wasser, das die Explosionen zu einem Mini-Tsunami hatten anschwellen lassen, es überspülte.
Thien musste außen herum, am Ufer entlang zum anderen Ende des Sees laufen. Er musste Sandra aus diesem Zelt holen, koste es, was es wolle. Er rannte auf dem Uferweg in Richtung St. Moritz Dorf. Er hatte eine Strecke von gut tausend Metern zu bewältigen. Er warf seine Kameratasche in den Schnee zwischen dem Weg und der Uferstraße. Nur die umgehängte Canon baumelte weiterhin vor seiner Brust. Er hielt sie mit einer Hand fest. Die Autos neben ihm hielten an, die Fahrer stiegen aus und schauten ungläubig nach vorn. Dort, wo noch vor wenigen Minuten eine kleine Zeltstadt gestanden hatte, besetzt mit Tausenden von Menschen, herrschte Chaos. Das Wasser schien zu brodeln. Als würde es sieden oder als hätte man einen Schwarm Fische in eine Badewanne geworfen.
Das VIP-Zelt stand immer noch. Die Fahnen mit dem Caisse-Suisse-Logo zeigten steil nach oben in den knatschblauen Winterhimmel, während um sie herum alle Tribünen, das Zelt des Totalisators, der Startturm, das Kunstzelt und alle anderen Bauten nach und nach verschwanden.
Thien rauschte das Blut in den Ohren. Er hörte kaum die Helikopter der Bergrettung und der Schweizer Armee, die von irgendwoher herangeflogen kamen und knapp über dem Wasser schwebten, um Menschen aufzunehmen und in letzter Sekunde vor dem Ertrinken und Erfrieren zu retten. Einige klammerten sich an die Kufen und brachten die Hubschrauber beinahe zum Absturz. Schnell flogen die Piloten mit ihrer nassen Last an das Ufer, warteten, bis sich die Geretteten von den Stahlkufen gelöst hatten, und flogen wieder zurück über das Wasser. Wie ein Hochseerettungseinsatz sah die Szenerie aus. Die Piloten hatten alle Hände damit zu tun, nicht mit ihren Kollegen zusammenzustoßen.
Ein weiterer Heli gesellte sich dazu. Er war in den Farben der Graubündner Kantonspolizei lackiert, hielt einigen Abstand zu den beiden anderen Drehflüglern und fischte über der ehemaligen Pferderennbahn nach Überlebenden, die sich von Geschirr und Ski rechtzeitig getrennt hatten, um nicht nach unten gezogen zu werden.
Über die Corviglia senkten sich weitere Hubschrauber herab. Die beiden Maschinen der Schweizerischen Rettungsflugwacht überflogen das Dorf in wenigen Metern Höhe und hielten auf das VIP-Zelt zu. Unter ihren Rümpfen baumelte jeweils ein Flugretter an der Seilwinde. Thien war noch immer gut fünfhundert Meter entfernt. Er sah, wie die beiden Helis sehr nah beieinander über dem VIP-Zelt schwebten und die Retter einen Gast nach dem anderen packten und sich
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