Bluteis: Thriller (German Edition)
angelaufen war. Der Zug aus St. Moritz war mit der gewohnten Pünktlichkeit in der Bundeshauptstadt Bern angekommen. Zwar waren die Waggons fast leer, aber das störte Thien nicht. Schon eher, dass er auf der knapp fünfstündigen Zugfahrt acht Mal kontrolliert wurde. Nicht von Schaffnern, sondern von Milizionären und Soldaten, die Bahnhöfe und Züge durchstreiften.
Ein eisiger Wind, der ein paar Schneeflocken vor sich hertrug, traf ihn von der Seite. Er schlug die Kapuze des Anoraks über den Kopf und wurde prompt an der Ecke Bärenplatz und Schauplatzgasse von einem Soldaten, der vor einem Schützenpanzer stand, nach seinem Ausweis gefragt. Geduldig langte Thien in die Ärmeltasche seiner Skijacke und überreichte seinen roten Reisepass. Ein Asiat mit deutschem Pass war grundsätzlich verdächtig. Also hieß es: Kapuze runter. Der Soldat zog das Handy heraus und schoss ein Porträtfoto, das er umgehend zur Identifizierung an irgendeine Zentrale schickte. Dann holte er einen gummierten Tablet-PC aus dem Panzer. Thien musste alle zehn Finger auf den Bildschirm legen. Er kannte diese Prozedur mit den mobilen Abdruckscannern längst. Er hatte morgens um halb fünf in St. Moritz beim Betreten des Bahnhofs genauso kommentarlos mitgemacht wie vor fünf Minuten beim Verlassen des Bahnhofs in Bern. Die Daten gingen wohl ebenfalls an ein Rechenzentrum. Das hatte offenbar ziemlich zu tun, denn erst nach gefühlten fünf Minuten blinkte eine grüne Anzeige auf dem Display des Flachrechners, und Thien bekam Passiererlaubnis.
Langsam kroch die Kälte an Thiens Beinen nach oben. Er war froh, als er sich endlich wieder bewegen durfte, und schritt mit schnellen Schritten den Bärenplatz hinab in Richtung Café Fédéral. Vor dem Café blieb er stehen und überblickte den Bundesplatz. Auch an allen vier Ecken des Platzes, unter dem, wie jeder Schweizer wusste, ein Teil der Goldreserven der Eidgenossenschaft lagerten, standen Schützenpanzer. Soldaten standen um sie herum und hielten jeden auf, der über den Platz wollte. Sie sicherten mehr als den Goldschatz in den Bunkern unter dem Platz, das Bundeshaus, Sitz des Parlaments und der Regierung der Schweiz, das sich an der südlichen Seite des Karrees befand. Im Sommer, das hatte Thien während der Fahrt im Kundenmagazin »via« der Schweizerischen Bundesbahnen gelesen, spritzen aus dem Boden des Platzes sechsundzwanzig Fontänen, die die Kantone und Halbkantone der Schweiz repräsentierten. Kinder von Touristen und Einheimischen machten sich bei heißen Temperaturen einen Spaß daraus, durch den Wald der Wasserstangen zu rennen.
Vor dem Eingang des Café Fédéral stand ein weiterer Wachposten. Wahrscheinlich gingen hier genug Parlamentarier und hohe Beamte der Regierung ein und aus, um eine zusätzliche Absicherung des Restaurants zu rechtfertigen. Dem Soldat genügten ein Blick in Thiens Ausweis und ein Funkspruch, um seine Identität und Unbedenklichkeit zu prüfen. Er ließ Thien ein und hielt ihm dabei sogar die Tür der Gaststätte auf. Ein Schwall feuchter Wärme und der Geruch von Essen empfingen Thien. Hier drinnen schien die Welt noch in Ordnung. Männer in grauen Anzügen saßen an den quadratischen kleinen Tischen und hatten Kaffee oder Teller mit Mittagsmenüs vor sich. Sie sprachen sehr gedämpft miteinander.
Thien wandte sich an einen Kellner. »Baumgartner.«
Wortlos führte ihn der Kellner den Gang entlang in einen leeren Nebenraum und fragte: »Sie wünschen zu speisen?«
»Nur Kaffee«, bat Thien, woraufhin der Kellner verschwand und die Tür leise hinter sich zuzog.
Thien war allein.
Hier also war eine der Machtzentralen der Schweiz, ja, der westlichen Welt. Diese Leute im Speiseraum nebenan, die Bankiers, die systemrelevanten Verwalter von Soll und Haben, die verschwiegenen Ermöglicher alles Bösen und alles Guten auf dieser Welt, hatten diejenigen, die den See in die Luft gesprengt hatten, eigentlich treffen wollen. Und sie hatten es ja auch getan. Die Aktienkurse befanden sich seit Tagen auf Talfahrt. Doch warum hatten sie nicht gleich hier zugeschlagen? Warum hatten sie keinen Flugkörper in die Zentrale der Caisse Suisse oder einer ihrer Konkurrenten am Zürcher Paradeplatz geschickt? Oder zur Mittagszeit in dieses Café in Bern? Oder beides? Sie schienen ja über allerhand technische Möglichkeiten zu verfügen.
Thien schaute hinaus durch das kleine Fenster. Natürlich war das eine naive Vorstellung. Terroristen würden nie einfach nur eine Bank
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