Blutengel: Thriller
bescheuert? Ich sitze hier mein Jahr ab, und wenn ich Glück habe, wird mir der eine oder andere Monat geschenkt. Ich hab’ die Alte schließlich nicht umgebracht.«
»Carolus glaubt, dass Sie hinter einem Drohbrief stecken.«
»Drohbrief? Den hab’ ich hier drin geschrieben, und dann bin ich damit zum Anstaltspostamt … haben Sie eine Ahnung, wo wir hier sind?«
»Ich weiß, dass die Post kontrolliert wird, aber es gibt andere Wege«, sagte Tannen. Schurmann schüttelte ungläubig den Kopf. Tannen hatte den Eindruck, als hätte der Mann da vor ihm einen Heidenrespekt vor Carolus. Als dessen Name gefallen war, hatte er sich ruckartig aufgesetzt und seinen Rücken durchgestreckt.
»Hören Sie, ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«
»Haben Sie mit einem anderen Gefangenen über Ihren Fall geredet?«
»Lebensgeschichten kommen hier nicht gut an.«
Der Mann vermied es, die Sprache noch einmal auf Carolus zu bringen. Kein Protest, dass der Mann ihn verdächtigte, keine Verbitterung wegen seiner Verurteilung.
Warum aber hatte Clemens Carolus ihnen den Mann auf einem silbernen Tablett serviert? Schwarzer Ritter, so hatte Schurmann ihn bezeichnet.
Am Ausgang fragte Tannen den Beamten, ob Schurmann Freigang gehabt habe. Der Mann zog einen Ordner aus einem Regal, blätterte darin und schüttelte dann den Kopf.
»Kein Freigang.«
»Und Besuch?«
Der Beamte blätterte zwei Seiten weiter und sagte: »Nur eine Rechtsanwältin, eine Frau Binkel, Tanja Binkel, aber die war in einer anderen Sache hier.«
»Andere Sache?«
»Sie hatte keine Vollmacht, ist also nicht seine Anwältin.«
Tannen bedeutete Weitz, nicht weiter nachzufragen. Sie mussten sich erst mit Mangold abstimmen. Würde sich dies hier als eine wirklich heiße Spur entpuppen, durften sie jetzt nicht ins Blaue hinein fragen. War Schurmann direkt oder indirekt an den Morden beteiligt, dann mussten sie zunächst herausfinden, warum Tanja Binkel ihn aufgesucht hatte. Schurmann konnte ihnen einen Bären aufbinden und sich gleichzeitig in Deckung bringen.
Es half nichts, sie mussten so tun, als hätten sie die Sache fest im Griff. Ja, das war im Moment die entscheidende Frage: Was hatte die ermordete Tanja Binkel in Billwerder zu suchen gehabt? Was wollte sie von Schurmann?
*
Warum nicht mal die Dinge auf sich zukommen lassen? Das war nicht das Schlechteste. Kaja strich über den Aktenordner.
Noch vor einem Jahr hatte sie so etwas wie einen Karriereplan entwickelt. Sich endlich an die Dissertation setzen, Assistentenstelle an der Universität, Habilitation, nach drei Jahren dann … Ja, was eigentlich? Eine vertrocknete Professorin werden, die schließlich lustlos und desillusioniert nur noch die Universitätsroutine abspulte? Sich in Universitätsgremien den Hintern plattsitzen und mit den Jahren grauer und grauer werden? Mit einem kleinen Forschungsauftrag aus der Industrie ihr Salär aufbessern und abgekämpften Studenten etwas über Prägungen oder frühkindliche Störungen vermitteln? Von Tag zu Tag auf schnurgeraden Pfaden der Pension entgegen?
Selbst als Mutter hatte sie versagt.
Leonie war nicht einfach nur zu ihrem Vater nach Zürich gezogen. Es war nichts anderes als eine Flucht. Ihre Tochter war vor ihr geflohen. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.
Kaja sah hinüber zu Peter Sienhaupt, der in seinem Knautschsessel geradezu andächtig auf den Bildschirm blickte. Sie bezweifelte, dass er schon Geschmack an ihrem Fall gefunden hatte. Wahrscheinlich war er glücklich, weil er der Fuchtel seiner Schwester entkommen war. Zu gern hätte sie einen kurzen Blick in das Hirn des Autisten geworfen. Herausgefunden, wie sich seine Welt anfühlt, was für ihn Glück und auch was Unglück bedeutet. Konnte man das überhaupt? Einen Blick in die Welt eines anderen Menschen werfen? Und dann auch noch in das Hirn eines Genies? Jeder glaubte zumindest zu einem Teil zu wissen, was im Hirn seines Gegenübers vorging. Angeblich gab es dafür diese rätselhaften Spiegelneuronen im Hirn. Doch wenn man sich wirklich im anderen spiegelt, ja, wenn dieser andere und alle seine Brüder und Schwestern, denen man begegnet, eigentlich ein Bestandteil unser eigenen Natur sind, wer ist man dann selbst? Gibt es uns dann überhaupt? Oder sind wir nichts anderes als Milliarden von Spiegeln über den ganzen Erdball verstreut? Jeder mit Schlieren, Kratzern, Sprüngen, manche eben auch zerbrochen und zersplittert?
Alles nichts als Ausdünstungen des Hirns einer Frau
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