Blutengel: Thriller
seinem Meditationskissen, und es schmerzten bereits Oberschenkel und Rücken. Er durfte gar nicht daran denken, dass sie mit wenigen Unterbrechungen durch Gehmeditationen bis um halb zehn Uhr abends auf diesen verfluchten Kissen sitzen würden. Drei ganze Tage lang. Und damit hatte er noch Glück. Normalerweise ging so ein Sesshin nicht unter sieben Tagen ab. Sitzen von morgens halb vier bis abends halb zehn. Abgesehen von den halbstündigen Unterbrechungen, während der in Meditationshaltung und schweigend das Essen eingenommen wurde.
Außer beim Gespräch mit der Meisterin waren jedes Wort und jeder Augenkontakt mit den anderen Wahnsinnigen, die hier, wie er auch, alle freiwillig erschienen waren, verboten. Zen-Training nannten sie das. Da hätte er die Zeit lieber damit rumgebracht, sich von amerikanischen Drill-Sergeants anschreien zu lassen. Die sagten wenigstens etwas.
Nach zwei weiteren Sitzperioden grübelte Hensen über Ausreden nach, mit deren Hilfe er hier verschwinden konnte. Was hatte er überhaupt hier in Holland zu suchen?
Gebaut worden war das Reetdach-Gebäude, in dem sich dieses Zendo befand, als größter Puff der Niederlande. Doch seit einigen Jahren lebte eine Mönchs- und Nonnengemeinschaft von Zen-Buddhisten in den Räumen und veranstaltete Meditationswochenenden, Achtsamkeitstrainings und mehrtägige Dai-Sesshins. Immer schweigend und nur unterbrochen von ein paar Stunden Schlaf in der Nacht.
Nicht einmal Mangold hatte er von seinem »Ausflug« erzählt. Der wusste nur, dass er wöchentlich an einem Meditationsabend teilnahm.
Die im Rinzai-Zen geschulte Meisterin würde ihm am Nachmittag in einer persönlichen Unterweisung ein K ō an übertragen, das er ohne logisches Denken »zu lösen« hatte. Ein Paradoxon, das in der Lage sein sollte, das herkömmliche Denken zu sprengen. »Schnellboot zur Erleuchtung«, hatte die Meisterin das genannt und schallend gelacht. Die Antwort hatte man zu präsentieren. Was immer das heißen sollte.
Zugegeben, er war neugierig darauf gewesen. Doch jetzt wusste er nicht einmal, ob er die nächsten 20 Minuten auf dem Kissen überlebte. Er hatte gelesen, dass es schon mal vorkam, dass beim »Sitzen in Stille« eine Sehne riss. Niemanden hier schien das sonderlich zu beunruhigen.
Hensen öffnete vorsichtig seine Augen. Ihm gegenüber saß ein 25-jähriger Mann, daneben eine Frau, die um die 70 sein musste. Wenn die es schaffte, Stunde um Stunde auf dem Kissen zu verharren, ihre Gedanken einfach vorbeiwehen zu lassen, ohne sich daran zu klammern, dann … Ja, er würde sich beweisen, dass er das durchstehen konnte. Er war durch den schlimmsten Dreck gekrochen, hatte sich fast den Hintern abgefroren, durch einen Schuss einen Teil seines Ohrläppchens verloren – und da sollte er es nicht schaffen, ein paar Stunden im Trockenen auf einem Kissen zu sitzen?
Wie seine Hamburger Trainerin es ihm beigebracht hatte, versuchte er, seine Atemzüge beim Ausatmen mit voller Konzentration zu zählen. Immer bis zehn und dann wieder von vorn. Doch schon bei zwei oder drei war er in Gedanken sonst wo, nur nicht bei den Zahlen und schon gar nicht beim Atmen.
Nein, für diese fernöstlichen Sperenzien war er einfach nicht geschaffen. Dazu musste man eine Veranlagung haben, ein Talent. Und einen stabilen Rücken. Sushi essen half da nicht.
Hah, der war nicht schlecht: Sushi essen half da nicht!
Auch in der vierten Sitzperiode, die vom herbeigesehnten Klang eines Glöckchens beendet wurde, schliefen ihm die Füße ein. Gab es das? Konnte man bei der Meditation einen Fuß oder ein Bein verlieren, weil es nicht durchblutet wurde?
Er versuchte, seinen halben Lotussitz etwas zu lockern, doch jede noch so kleine Bewegung machte Geräusche. Was war mit dem Rücken? Dem Nacken? Wie konnte es verflucht noch mal sein, dass aufrechtes Sitzen so weh tat?
Bei der Gehmeditation machte er zunächst vorsichtige Schritte, weil er Angst hatte, wegen des fehlenden Gefühls umzuknicken und sich den Knöchel zu brechen.
In der fünften Sitzperiode unterbrach Hensen die elendige Atemzählerei und schickte ein Stoßgebet in den Himmel. Lieber Gott, lieber Buddha, oder wer immer da oben das Sagen hat, bitte lass nach dem Mittagessen eine kurze Pause zu uns herunterkommen. Ein paar Minuten, in denen ich meinen Rücken auf eine gerade Fläche betten kann. Bett, Teppichboden, Fliesen, egal. Nur gerade muss es sein.
Hensens fester Entschluss, dieses Meditationswochenende spätestens am Abend
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