Blutengel: Thriller
er zur fest installierten Kamera.
Dieses dicht am Alsterlauf gelegene Poppenbüttel galt noch vor zehn Jahren als Nobellage Hamburger Neureicher. Gedungene Behörden mussten Baugenehmigungen ohne Rücksicht auf freie Flächen ausgeschüttet, Straßen durch den einst idyllischen Flecken getrieben und jeden noch so hässlichen architektonischen Missgriff genehmigt haben.
Den alten Baumbestand hatte man bis aufs Nötigste abrasiert, und das hier ansässige Einkaufszentrum hatte den Rest erledigt. Die dörflichen Strukturen mit ihren kleinen Bäckereien, Schustereien, Damenmodeläden, Friseuren, kleineren Supermärkten und Fleischereien waren verschwunden.
Weitz sah durch das Autofenster auf einen Gründerzeitbau, in dem sich ein altes Café tapfer gegen die Betonierung des Stadtteils wehrte.
Fünf Minuten später erreichte er das kleine Wäldchen, in dem die psychiatrische Pflegeeinrichtung liegen musste. Dass man Irre im Wald versteckte, nun gut, dagegen war zunächst einmal nichts einzuwenden.
Eigentlich hatte Weitz einen Zaun erwartet, doch das Gelände war frei zugänglich.
»Wenn das mal gut geht«, murmelte er und bremste seinen Wagen vor dem Haupteingang. Neben dem Haus, das in den Sechzigern errichtet worden sein musste, spielten ein paar Männer Boule.
Ein Sport für Beknackte, dachte Weitz. Ich wusste es. Hauptsache, er war nicht in der Nähe, wenn die sich gegenseitig die Metallkugeln an die Birne donnerten.
Nicht einmal einen Pförtner gab es in dieser Anstalt. Im ersten Stock entdeckte er einen jungen Mann, der recht normal aussah.
»Sind Sie ein Pfleger?«
Der Mann sagte nichts, sondern sah ihn verwundert an.
Dann griff er blitzschnell auf Weitzens Schulter, zog die Hand zurück und hielt ein Haar in die Höhe.
»Das würde ich lassen, sonst knall’ ich dir eine. Haben wir uns verstanden?«
Der Mann sah ihn immer noch verwundert an.
»Na, wo ist denn der Onkel Doktor, hm?«, sagte Weitz.
»Der sagt nichts«, sagte eine junge Frau, die auf sie zutrat. Sie trug eine bunte Kappe, aus der einzelne blonde Strähnen fielen.
»Ach nein?«
»Der hat noch nie was gesagt. Er hat Angst.«
»Ist ihm deshalb das Gesicht eingefroren?«
»Ja«, sagte die junge Frau.
»Sind Sie hier so etwas wie ’ne Pflegerin?«
Statt einer Antwort zog sie den Ärmel ihres T-Shirts in die Höhe.
Weitz erkannte frische Schnittwunden.
»Borderline«, sagte die Frau gleichmütig und wies ihm den Weg zum Schwesternzimmer.
Der junge Mann hinter dem Schreibtisch sah ihn bedauernd an.
»Wir haben jetzt eigentlich keine Besuchszeiten.«
Weitz hätte ihm am liebsten seinen Ausweis auf den Tresen geknallt, doch im letzten Moment beherrschte er sich.
Damit würde der Befragung etwas Offizielles anhaften, und er durfte anschließend wieder ellenlange Protokolle verfassen. Sollte sich nichts ergeben, nun gut, niemand musste erfahren, dass er den Mann in Augenschein genommen hatte.
Weitz sagte, dass er nur ein paar Fragen hätte. Sozusagen reine Informationen in einer Angelegenheit, bei der Jens Binkel ihm helfen könne.
»Wo habt ihr ihn eingesperrt?«, fragte Weitz.
Der junge Mann erhob sich seufzend von seinem Stuhl und fuhr mit dem Finger über eine an der Wand hängende Liste.
»Maltherapie«, sagte er. »Ich bring’ Sie hin.«
*
Kaja Winterstein war zu Hause in ihrer Villa. Sie suchte auf ihrem iPhone einen Internetradiosender. Sie entschied sich für Heavy Metal. Diese Stimme musste aus ihrem Kopf. Unbedingt.
Es war vollkommen ausgeschlossen, dass Travenhorst noch lebte. Der DNA-Abgleich war eindeutig gewesen. Wegen der Tricksereien des hochintelligenten Mörders hatte man die Ergebnisse gleich mehrfach abgeglichen.
Wenn man die Existenz von Travenhorst ausschloss, gab es nur noch drei Möglichkeiten: Der Text war vor seinem Ableben aufgenommen worden, man hatte ihn am Computer zusammengebastelt, oder aber, und das war zweifellos die beunruhigendste Möglichkeit: Sie halluzinierte, bildete sich ein, die Stimme zu hören. Von zahlreichen Patienten wusste sie, dass es oft unmöglich war, die Stimme als Produkt des eigenen Hirns zu erkennen. Es war wie bei einem Déjà-vu-Erlebnis. Auch dabei schworen Menschen Stein und Bein, dass sie bestimmte Situationen schon einmal erlebt hatten.
Eine Stimme täuschend echt wieder auferstehen zu lassen, das war mit heutigen Computerprogrammen durchaus möglich.
Die menschliche Stimme ließ sich in alle Einzelteile sezieren und wieder neu zusammensetzen. Dazu brauchte man
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