Blutengel: Thriller
möglich.
Kaja schritt durch ihr sparsamst möbliertes Wohnzimmer. Die Vorhänge der breiten Glasfront zum Leinpfadkanal hin waren aufgezogen. Wie immer.
Drüben, auf der anderen Seite des Kanals, schob eine Mutter ihren Kinderwagen durch die Nachmittagssonne.
»Nein, nein«, sagte sie laut, griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Abtreibungsklinik, die sie schon vor Wochen herausgesucht hatte.
»Hallo«, sagte sie in den Hörer.
Sie legte noch einmal auf und hob erneut den Hörer.
Die Leitung war tot.
*
Mit einem Meter Abstand folgte Marc Weitz dem Pfleger.
Erstaunlich, doch die meisten Patienten, denen sie begegneten, wären ihm auf der Straße nicht sonderlich aufgefallen. Das Irresein wusste sich gut zu maskieren. Vielleicht hätte er den Kollegen im Präsidium doch mitteilen sollen, wo er war.
Weitz und der Pfleger passierten einen länglichen Flur, dessen Wände mit Bildern der Patienten dekoriert waren. Über zwei Türen, die den Namensschildern nach Sprechzimmer von Klinikärzten waren, leuchtete der Satz »Bitte nicht eintreten«.
»Da hinten ist es«, sagte der Pfleger und deutete auf eine große Flügeltür. »Wir benutzen den Raum auch als Turnhalle für Yoga- und Qi-Gong-Kurse.«
»Und wo ist das Schwimmbad?«, fragte Weitz. Der Pfleger quittierte das mit einem asthmatischen Lachen.
»Wer kontrolliert eigentlich, wann die Patienten kommen und gehen? Ich habe keinen Pförtner gesehen.«
»Niemand«, sagte der Pfleger. »Dies ist eine offene Einrichtung.«
An der Wand bemerkte Weitz ein Bild, das zwei Gesichter zeigte. Sie vermischten sich. Während das eine Antlitz lächelte, zeigte das andere statt der Augen schwarze Höhlen. Das dunkle Gesicht schien zu vibrieren. Und es hatte die Kontrolle über das andere Gesicht übernommen, dessen Konturen sich aufzulösen begannen.
Ja, mit einem zweiten Gesicht hatten auch sie es zu tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach – und um das zu wissen, brauchte er keinen neunmalklugen Kommissar Mangold – lebte auch ihr Täter ein stinknormales Leben. War ein netter und aufmerksamer Nachbar, brachte morgens brav die Kinder zur Schule, vögelte seine Ehefrau, und wenn es ihn überkam, ja, dann zog er los.
Bei den Kinderfickern war es anders. Die begannen ihre Jagd morgens oder am frühen Nachmittag, wenn die Kleinen aus der Schule kamen oder auf die Spielplätze strömten. Aber womöglich war es in diesem einen Fall ganz anders. War dies die Ausnahme von der Regel? War es möglich, dass ein Psychiatriepatient alle zum Narren hielt und einfach aus dem Heim verschwand? Sich seine Schwester vorknöpfte und Gefallen am Töten fand?
»Kommen Sie?«, sagte der Pfleger.
Weitz löste sich von dem Bild und folgte ihm zur Flügeltür.
Das Parkett war in einem honigfarbenen Ton gehalten. An der Wand stand ein Klavier, daneben zwei Stapel übereinandergelegter Gymnastikmatten. Die Fenster waren unwirklich klein.
In der Mitte standen ein paar Leute im Kreis, die allesamt mehr oder weniger befleckte Kittel trugen. Vor ihnen eine Staffelei und in der Mitte ein Spielzeugkarussell.
»Binkel?«, rief der Pfleger in den Raum. Die Leute fuhren fort zu malen. Nur ein etwa 40-jähriger Mann bewegte sich auf Weitz und den Pfleger zu.
»Also Binkel …«
»Hier bin ich«, sagte eine Stimme, die hinter einem Paravent hervordrang. Dann kam hinter einer abseits stehenden Leinwand ein Mann hervor. Er musste knapp über 30 sein und hatte rötliche Haare. Seine modischen Turnschuhe quietschten auf dem Parkett, als er, mit einem Pinsel in der Hand, auf sie zutrat.
»Ich bin Jens Binkel, und ich bin gefährlich«, zischte er, hob einen breiten Pinsel, von dem die rote Farbe tropfte, und zog einen Strich über seinen Kittel. Dann lachte er hysterisch.
»Sie haben keine Staffelei?«, fragte Weitz.
»Ich male gern ein wenig im Abseits … Herr Kommissar?«
Weitz korrigierte ihn nicht. Sollte er doch denken, was er wollte.
Binkel beugte sich leicht vor und sagte: »Meine Bilder sind nicht so schön anzusehen, wissen Sie.«
»Was malen Sie denn?«
»Arschlöcher, blutende Arschlöcher.«
»Herr Binkel, Sie wurden vom Tod Ihrer Schwester informiert?«
Binkel sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an, dann reckte er angriffslustig den Kopf noch weiter vor und sagte: »Ja.«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«
»Nein.«
»Herr Binkel, sagt Ihnen der Name Hans Innach etwas?«
»Nie gehört.«
»Waren Sie in der fraglichen Zeit auf Freigang, äh … ich meine, haben
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