Blutengel: Thriller
zog sie glatt, dann wühlte er wieder in seinem Rucksack und brachte eine Schnur hervor. Auch ihr Mann hatte so was immer in der Hosentasche gehabt: eine Schnur und ein Taschenmesser.
»Ich gebe Ihnen Geld«, sagte die Frau. »Ich hab’ nicht so viel im Haus, aber Sie nehmen meine Bankkarte, und ich sage Ihnen die Geheimnummer.«
Der Mann zog einen Akkustaubsauger aus seinem Rucksack und legte ihn auf die Folie. Dann einen schwarzen Füllfederhalter. Ordentlich sortierte er die Gegenstände nebeneinander.
Wie ein Verkäufer seine Waren auf dem Tisch ausbreitet, dachte sie.
»1000 Euro können Sie bestimmt abheben, wir haben den Vierten, da ist die Rente schon da. Ich hab’ auch noch Schmuck. Ist nicht viel wert, aber eine Goldkette ist dabei …«
Erst jetzt erinnerte sie sich wieder an die Plastiktüte, die er vorhin in der Hand gehalten hatte. Wo war die Plastiktüte? Was hatte er da drin?
»Wollen Sie etwas zu essen? Ich kann Ihnen etwas warm machen. Oder einen Kaffee?«
Der Mann verzog keine Miene, sagte nichts.
»Aber bitte, was habe ich Ihnen getan? Sie können alles, alles mitnehmen, hören Sie?«
Sie bemerkte die Plastiktüte, die neben dem Sofa lag, und tatsächlich: Ein rotes Rinnsal lief aus der Tüte.
»Blut? Ist das Blut?«, fragte sie. Der Mann blickte kurz zu dem Paketband.
Sie musste ihre Stimme ruhig halten. Mit ihrer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung würde sie eine Knebelung nicht überleben. Seit sie denken konnte, hatte sie Angst davor gehabt: eines Tages geknebelt zu werden und zu ersticken.
Die Stirn schmerzte, und sie sah helle Blitze vor den Augen. Ihr war plötzlich so kalt.
»Nun sagen Sie doch, was Sie von mir wollen! Verwechseln Sie mich? Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet und …«
»… meine Familie ernährt?«, unterbrach er und lächelte sie höhnisch an. Seine Stimme war sanft. Fast einschmeichelnd. Doch sie passte nicht zu seinen Augen, die unruhig hin- und herwanderten. So wie bei jemandem, der ständig kontrollierte, ob alles in Ordnung war, der sich davor fürchtete, dass gleich ein Mensch zur Tür hereinkam und ihn maßregelte.
Sie hatte solche von Angst getriebenen Augen schon gesehen. Zu Dutzenden. Vor vielen Jahren war das gewesen.
»Wir können doch ein wenig reden«, sagte sie. »Reden wir ein wenig.«
»Sie werden sterben«, sagte er.
»Sterben? Aber warum denn? Warum jetzt? Was habe ich getan? Um Himmels willen, so sagen Sie doch was.«
»Es endet immer gleich. Sie werden sich entschuldigen, und das reicht nicht.«
»Entschuldigen, aber warum denn entschuldigen? Wofür? Was habe ich denn getan? Sagen Sie es mir, damit ich mich erinnern kann. Ich bin eine alte Frau.«
Fieberhaft überlegte sie, was dahintersteckte. Was um Himmels willen hatte sie getan? Er meinte doch nicht … diese alte Geschichte? Nur weil sie gestohlen hatte? Von draußen hörte sie das Läuten der Frauenkirche.
»Man hat mich entlassen, damals«, sagte die Frau. »Ich habe gebüßt.«
»Ich sage es doch«, sagte der Mann. »Es ist immer dasselbe. Gleich kommt die Entschuldigung, und ich werde sie nicht akzeptieren. Möglich, dass Sie sogar von Reue sprechen. Dass es Ihnen leidtut.«
»Ich entschuldige mich nicht.«
Er lächelte und griff zu der Plastiktüte. Ihr war vorhin gar nicht aufgefallen, wie groß sie war. Er griff hinein, zog langsam … Sie krallte ihre Finger in die Sessellehnen und versuchte zu schreien. Doch es war nur ein röchelnder Laut, der aus ihrer Kehle kam.
11.
Das hätte nicht passieren dürfen. Auf keinen Fall.
Mangold lockerte seine Krawatte und fuhr mit dem Finger hinter den Kragen. Und dann hatte er auch noch verschlafen. Das Kapitel Vera war doch längst abgeschlossen. Und jetzt das. Im Mund spürte er einen schalen Rotweingeschmack. Seine Zunge war pelzig.
Mangold hupte zweimal, als vor ihm ein Wagen abrupt bremste. Flüchtig reckte er den Kopf zum Rückspiegel. Er sah aus, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Schon das zweite Glas Wein hätte er ablehnen müssen. Aber alles war auf eine irritierende Weise so vertraut gewesen. Die Küche, die Gläser, der Geruch nach Chanel, selbst das Gurgeln der Espressomaschine.
Er sah auf die Uhr. Nein, es lohnte sich nicht, jetzt noch im Präsidium anzurufen. Dann mussten sie eben warten. Einen wichtigen Termin vorschieben? So, wie er aussah, würde ihm das niemand abnehmen. Besonders Kaja nicht.
Nein, er sah genau nach dem aus, was passiert war: nach einem verkaterten Enddreißiger, der
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