Blutengel: Thriller
Im Augenwinkel erkannte er den weißen Kittel eines Labormitarbeiters. Der Mann beugte sich an sein Ohr und flüsterte: »Ganz eindeutig, es ist Menschenblut.«
*
Jan Hensen saß mit seinem Skizzenblock im Saal VIII der Alten Pinakothek in München und versuchte, Peter Paul Rubens’ »Höllensturz der Verdammten« zu kopieren. Leiber, die weg vom himmlischen Licht in seltsamen Verrenkungen in die Finsternis glitten, taumelten und stürzten. War es das? Fühlte sich ihr Täter als mörderische Hand eines göttlichen Auftrags? Erhob er sich selbst in seiner grenzenlosen Egomanie zum Richter und Henker?
Traf das zu, mussten sich die Opfer schuldig gemacht haben. Zumindest in den Augen des Täters. Oder waren sie einfach schuldig, weil sie Menschen und damit ohnehin »sündenbeladen« waren, wie einige katholische Lehren das behaupteten? Theologisch-psychologisches Geschwätz.
Wenn er bei seinen stundenlangen Meditationen und der Begleitmusik ständiger Rückenschmerzen etwas begriffen hatte, dann, dass er hinsehen musste. Genau hinsehen. Nachzudenken, während man skizzierte, das war ohnehin Unsinn.
Wie zeichnete man fallende Körper? Wie das Entsetzen, wenn es abwärts ging? In einen namenlosen Schlund.
Hensen sah auf seinen Versuch und schüttelte angewidert den Kopf. Da fiel gar nichts, sondern lag aufgeklatscht auf einem weißen Stück Papier. Die pure Talentlosigkeit. Mit seinem mit Spucke befeuchteten Finger versuchte er, ein paar zu harte Striche etwas weicher zu gestalten. Immerhin ähnelten sie dadurch mehr dem, was man eine Kontur nannte.
Er blätterte zurück zu dem Bild, das er vor ein paar Stunden am Tatort angefertigt hatte. Der Minotaurus zwischen den Schenkeln einer 70-jährigen Frau. Er würde sich wohl niemals wieder eine Zeichnung von Picasso ansehen können, ohne daran zu denken. Wollte der Täter das? Die Bilder von berühmten Künstlern mit Leben, nein, mit dem Tod füllen?
Hensen dachte an Tannen. Er hatte einfach aufgelegt. Ihm musste tatsächlich etwas eingefallen sein.
Vor ihm stand ein junges Pärchen vor dem Rubensbild. Der Mann hatte seinen linken Arm so um den Hals der Frau geschlungen, dass einem angst und bange werden konnte. Die Frau mit den roten Haaren neigte den Kopf leicht zur Seite, als interessierte sie ein Detail ganz besonders. Sie drehte ihren Kopf und sagte etwas zu ihrem klammernden Begleiter.
Ihr Pagenschnitt ähnelte einem Helm. Sie versuchte erneut, sich aus den Armen zu lösen, und ihr Freund mit der dunklen Hornbrille hatte ein Einsehen.
Nein, diese Frau machst du dir nicht untertan, dachte Hensen und blickte auf seine Tatortskizze. Mit seinem Stift schrieb er ein Fragezeichen an den unteren Rand. Auch wenn die Initialen eindeutig auf Picasso hindeuteten, den lateinischen Spruch, den der Täter hinterlassen hatte, würden sie erst in ein paar Stunden von den Pathologen übermittelt bekommen. Wie passten die lateinischen Sprüche dazu?
Der Täter machte sich mit seinen zynischen Kommentaren lustig über seine Opfer, die er keineswegs verbarg oder bedeckte. Jeden Rest von Würde wollte er ihnen mit seiner Zurschaustellung nehmen. Auch das Ausziehen der Unterwäsche deutete darauf hin.
Er nahm ihnen nicht nur das Leben, sondern auch ihre Lebensgeschichte. Degradierte sie zu Gliederpuppen für seine perversen Fantasien und seinen Größenwahn, der nur Respekt vor den Giganten der Malerei kannte.
Warum dieses Sammelsurium aus Weisheiten, Spitzfindigkeiten und höhnischen Kommentaren? Hinter den Sätzen standen nicht unbedingt Persönlichkeiten. Bei einigen war der Urheber unbekannt. Das wiederum passte keinesfalls zu den blutenden Bildern, die er nach Vorbildern inszenierte. Was aber, wenn er sich nicht nur einfach über die Opfer lustig machte? Wenn er auch hier kopierte? Jemanden, der ihn mit solchen Sprüchen malträtiert hatte? Also doch ein Lehrer, Professor oder Akademiker mit Lateinkenntnissen, der seine Schüler gequält hatte?
Ein Mädchen mit Zöpfen und in rosafarbenem Anorak betrachtete andächtig das Rubensbild, drehte den Kopf im Strudel der herabtaumelnden Körper und stellte sich dann gerade davor. Sie klatschte in die Hände, hüpfte, warf die Arme in die Höhe und lachte. Dann klatschte sie erneut in die Hände und rannte in den nächsten Saal.
Hensens Handy klingelte. Peer Mangold meldete sich.
»Du bist schon in Hamburg?«
»Vor dem Flughafen. Die Münchner Gerichtsmediziner haben angerufen.«
»Und?«
»Keine auffälligen Spuren, die
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