Blutengel: Thriller
bevorzugten Ablageplätze. Da hatte er sich ausgekannt.
Ihr Täter ein Trucker? Das passte einfach nicht zu den künstlerisch gestalteten Tatorten. Andererseits saß so mancher promovierte Hochschulabsolvent hinter dem Lenkrad eines Lastwagens oder Taxis. War es das? Frust über »Nicht-Anerkennung«? Jemand, der sich wegen der Missachtung seiner Fähigkeiten an der Menschheit rächte? Blutig zurückzahlte, was er an Respektlosigkeit und Ignoranz erlebt hatte?
Doch wie passte dazu jegliches Fehlen von mörderischer Raserei am Tatort? Fest stand, der Mord an dem Kunstmaler Nicolai, den sie in der Bühnenbildnerei gefunden hatten, passte nicht in die Serie. Schon einmal hatte er einen Augenzeugen beseitigt und ihm sein »Erkennungszeichen« in den Oberschenkel geritzt. Warum dann nicht bei Nicolai? Alle Serienmörder – auch wenn sie noch so rational und überlegt handelten – brauchten ihren Kick. Das Gefühl von Macht. Sie steigerten sich.
Bevor ein Täter seine Wohnung verließ und sich ein Opfer suchte, brauchte er einen stärker werdenden Antrieb, eine noch grausamere Fantasie, die er »umsetzen« wollte. Genau das konnte man am Tatort erkennen. Sei es nun der längere Todeskampf, die größere Erniedrigung oder die Steigerung der Angst bei den Opfern.
Es war die nächste Stufe, auf die er sich in seinem Wahn hinaufschraubte.
War Bestrafung das Motiv, musste das nächste Opfer es noch mehr verdient haben, musste es noch schlimmere Exzesse bei Bewusstsein oder nach Eintreten des Todes über sich ergehen lassen?
Draußen schlurfte jemand über den Gang, entfernt war eine Toilettenspülung zu hören. Nur ihre Schreibtischlampe brannte im sonst leeren Konferenzraum. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie genoss diese intime Atmosphäre. Und die geschäftige Einsamkeit. Sie bedeutete auch eine sich steigernde Vertrautheit mit dem Täter. Wo auch immer er sich gerade aufhielt, was auch immer er gerade tat, sie war ihm nah. Und es war keineswegs ausgeschlossen, dass er das spürte. Dass er spürte, dass da jemand versuchte, in seine Gedankenwelt einzubrechen, der dachte, was er gedacht hatte. Der das verstehen wollte. Serienmörder empfanden das oft genug mit einer gewissen Befriedigung.
Das Telefon auf Weitzens Schreibtisch leierte seine elektronische Tonfolge ab. Sie zögerte kurz, entschied dann, dass es wichtig sein konnte, und nahm den Hörer ab.
»Sonderkommission … äh … ja?«
Im Telefon knackte es.
»Kaja, sind Sie es?«
»Ach, Hensen, Sie sitzen nicht auf einer Piazza und trinken Vino Rosso?«
»Doch, und das ist in Gesellschaft Tannens schwieriger, als Sie sich vorstellen können.«
Sie lachte heiser und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich höre das genau«, sagte Hensen.
»Was denn? Das Arbeiten meiner Hirnzellen?«
»Das Rasseln Ihres Atems.«
»’tschuldigung«, sagte sie. »Das Rauchverbot hab’ ich ganz vergessen.«
»Könnten Sie Weitz etwas ausrichten?«
»Nur zu.«
»Er soll herausfinden, ob der Sohn des toten Priesters noch so heißt und wo er sich aufhält.«
»Ein Priester mit Kind?«
»Und tot obendrein. Der Mann hieß mit bürgerlichem Namen Hans Peter Schwan.«
»Geschrieben wie der weiße Schwan?«
»Genau. Der Vorname des Sohnes lautet Thomas.«
»Ich leg’ ihm einen Zettel auf den Schreibtisch.«
»Ist das Fax für Sienhaupt angekommen?«
»Liegt schon …«
»… auf seinem Schreibtisch, wunderbar. Dann hätte ich gern einen Espresso und die Unterschriftenmappe. Und eine Zigarette.«
»Die Toskana scheint Ihnen zu gefallen.«
»O ja, nur Tannen …«
»Was ist mit Tannen?«
»Er beginnt zu klauen.«
*
Marc Weitz blätterte die Krankenakte auf. Wenn er das Ärztelatein richtig verstand, litt Binkel an einer schweren Psychose, die schubweise auftrat. Außerdem wurden Hirnschädigungen durch Sauerstoffmangel erwähnt. Aufgewachsen war er in Jugendheimen, weil die Mutter mit ihm nicht zurechtkam. Als Jugendlicher verschiedene Einbrüche, Bewährungsstrafen, Jugendgefängnis, dann schwere Körperverletzung und als krönender Abschluss eine Vergewaltigung.
Ja, er hatte es gewusst. Der Mann war gefährlich und genau der Typ, der fähig war, andere Menschen umzubringen. Aus Hass, oder weil er einfach verrückt war. Die Medikamente, die ihm laut Akte verabreicht wurden, konnten solch einen Menschen garantiert nicht ändern. Und die in der Anstalt angebotenen komischen Therapien schon gar nicht.
Binkel war ihr Mann. Er, Marc Weitz höchstpersönlich,
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