Bluternte: Thriller
meldete sich, und er hinterließ eine Nachricht. Dann ging er durch sein stilles Haus, öffnete die Hintertür und trat in den Garten hinaus. Er setzte sich auf eine feuchte, moosbedeckte Bank unter einem kahlen Magnolienbaum und versuchte zu beten.
Teil IV –
Die längste Nacht
61
17. Dezember
»Also, meiner bescheidenen Meinung nach war das besser als beim ersten Mal, Reverend. Kürzer. Da brauchte man nicht so lange im Wind rumzustehen.«
Harry drehte sich um und sah, dass Tobias Renshaw sich durch die Schar der Trauernden, die in der großen Empfangshalle der Renshaws versammelt waren, an ihn herangepirscht hatte. Heute war wirklich nicht sein Tag. Nach Lucys zweiter Beerdigung in einem neuen Grab, weiter unten am Hügel als das erste, war er mit flatterndem Talar zur Kirche zurückgeeilt und hatte versucht, Evi zu erwischen, bevor sie – wieder einmal – verschwand. Dabei war er praktisch über die Journalisten gestolpert, die neben der Kirchentür lauerten. Er war wirklich nicht in Stimmung für diesen unausstehlichen alten Scheißer. Sehr betont sah er sich in dem großen Raum um.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Mike schon vom Grab zurück ist«, sagte er. »Vielleicht gehe ich mal raus und suche nach ihm. Das Ganze scheint ihn ziemlich mitzunehmen.«
»Wer?«, fragte Tobias. »Ach, Jennys Mann. Konnte den nie besonders leiden. Dachte immer, der ist bloß hinterm Geld her. Aber, na ja, sie scheint ja ganz glücklich zu sein. Wie geht’s denn der reizenden Alice und ihrer entzückenden Tochter? Hab’ die beiden gerade eben in der Kirche gesehen. Sind sie nicht mitgekommen?«
»Detective Chief Superintendent«, grüßte Harry erleichtert, als Rushton hinter Tobias auftauchte. »Schön, Sie zu sehen.«
»Ganz meinerseits, mein Junge.« Rushton nickte ihm zu und wandte sich dann an den älteren Mann. »Mr. Renshaw«, sagte er, »mein Beileid.«
»Ja, ja«, brummte Tobias. »Kann ich irgendjemandem was zu trinken besorgen? Man sollte doch meinen, es gäbe ’nen Härtefonds für Leute, bei denen ein zweites Begräbnis nötig wird, oder etwa nicht?« Harry und Rushton sahen dem alten Mann nach, als er zu dem Tisch mit den Getränken hinübermarschierte.
»Er ist vollkommen harmlos«, sagte Rushton leise.
»Wenn Sie meinen«, sagte Harry, der nicht die Energie aufbrachte, auch nur den Versuch zu unternehmen, seine Gefühle zu verbergen. »Aber wissen Sie, eins verstehe ich nicht.«
»Was denn, mein Junge?«
»Gehört nicht alles hier – das Land, die Höfe, der gesamte Grundbesitz –, gehört das nicht alles Tobias? Er ist schließlich der Älteste der Renshaws. Aber trotzdem hat anscheinend Sinclair das Sagen.«
»Vor ein paar Jahren ist alles an Sinclair überschrieben worden«, antwortete Rushton. »Soweit ich mich erinnern kann, wollte Tobias sich zur Ruhe setzen, und Sinclair wollte das Ganze nicht übernehmen, solange man ihm nicht völlig freie Hand lässt.«
Harry konnte Rauch und Kaffee im Atem des anderen Mannes riechen. »Er hat seinen Vater gezwungen, alles komplett an ihn abzutreten?«
»Ach, so hört sich das viel schlimmer an, als es war. Am Schluss hätte Sinclair doch sowieso alles geerbt. Für den Besitz gilt – wie nennt man das? – eine gewillkürte Erbfolge. Es erbt immer der älteste männliche Nachkomme. Also, ich bin froh, dass ich Sie zu fassen gekriegt habe. Wenn ich Sie mal kurz unter vier Augen sprechen dürfte?«
Während Harry sich sanft in eine ruhige Ecke schieben ließ, erblickte er Gillian, die ihn und den Detective beobachtete.
»Wir haben die Ergebnisse der letzten DNA -Untersuchung«, sagte Rushton leise. Auch er hatte Gillian bemerkt. »Sie wissen schon, die von der Asche, die Mrs. Royle in ihrem Küchenschrank hatte? Hat länger gedauert, als uns lieb war, aber jedenfalls, jetzt ist das Resultat da.«
»Und?«
»Treffer. Stimmt genau mit der von unserem Freund Arthur überein.«
Harry seufzte. Auf dem Tisch mit den Getränken stand eine Flasche irischer Whiskey, doch es war noch nicht einmal Mittag, und er hatte am Nachmittag viel zu tun. »Also, lassen Sie mich das klarstellen«, sagte er. »Bei der Asche, die Gillian Royle die ganze Zeit in ihrem Küchenschrank stehen hatte, handelt es sich in Wirklichkeit um die sterblichen Überreste eines Siebzigjährigen namens Arthur Seacroft, der ursprünglich neben Lucy begraben war?«
»Na ja, genau genommen nur um die sterblichen Überreste seines rechten Beines«, erwiderte Rushton. »Der Rest
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